Kulturen aus aller Welt haben mich schon immer begeistert, und dies vor allem, wenn sie mir besonders mysteriös erschienen. Nicht nur, dass ich durch meinen früheren Beruf über Jahre mit Menschen aus anderen Kulturen intensiven Kontakt hatte, ich habe mich auch schon in meinen jungen Jahren fasziniert mit Religionen und Spiritualität beschäftigt. Ich stellte mir immerzu die Frage, welche Auswirkungen sie auf Menschen und ihre Art, zu leben, haben. Immer deutlicher wurde mir allerdings mit den Jahren, dass vor allem die großen Weltreligionen Menschen alles andere als frei machen, sondern sie vielmehr sehr oft einengen und ihnen Fesseln anlegen. Besonders Frauen haben bis heute unter den patriarchalen Strukturen dieser Religionen, die vielerorts auch sehr eng auf Traditionen und das kulturelle Leben einwirken, schwerst zu leiden.
In jungen Jahren dachte ich, "der Orient" sei besonders bunt, vielseitig und fröhlich - in zahlreichen Begegnungen mit Frauen aus Ländern dieser Region wurde mir allerdings schnell und nachhaltig klar, dass ihr Leben keineswegs meinen einst naiven und romantischen jugendlichen Vorstellungen entsprach.
Vor allem die islamische und byzantinische Baukunst haben mich schon bald zutiefst berührt, als ihre schönsten Schätze erachte ich heute noch die Alhambra und die Hagia Sophia. Auch die Basilica San Marco in Venedig habe ich immer in diese Reihe der wundervollsten sakralen Gebäude eingeordnet, ihr byzantinischer Stil hat mich mehrmals direkt in seinen Bann gezogen. Ich war mehrmals in Venedig, hatte allerdings nur einmal das Glück, ins Innere des Markusdoms zu gelangen; dazu bedarf es auch großer Geduld, denn ins Innere des Domes streben stets viele Menschen, in langen Schlangen warten sie vor dem prächtigen Gebäude auf Einlass.
Ein außergewöhnlicher Poet des Islam hat vor Jahren mein Herz erobert, als ich nämlich eine Dokumentation über Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī – in unserem Kulturkreis schlicht Rumi genannt – sah. Der Regisseur des Filmes, Houchang Allahyari, konnte mir mittels einer wunderbaren Reise, die sich auf Rumi's Spuren begab, eine Welt des Friedens und der Liebe eröffnen - und seitdem liebe ich Rumi's Poesie. Später sollte ich auch Gedichte von Hāfez (deutsch: Hafis) schätzen lernen. Beide zählen auch gegenwärtig zu den bedeutendsten persischen Mystikern und Dichtern. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Schönheit der Liebe in den Mittelpunkt ihres von einer hohen Spiritualität durchdrungenen Schaffens stellten. Rumi war auch der Meinung, dass die Liebe die Hauptkraft des Universums sei, für ihn ergab die Schöpfung eine harmonische Einheit.
Leider ist die Realität im heutigen Iran eine ganz andere ...
Im Spielfilm "Yalda - Nacht der Vergebung", unter der Regie des gebürtigen Iraners Massoud Bakhshi, wird Maryam, eine junge Frau, in Handschellen in das Studio eines auf Unterhaltung spezialisierten Fernsehsenders in Teheran gebracht. Maryam soll an diesem Abend anlässlich des Yalda-Festes in der Sendung "Joy of Forgiveness" die Chance erhalten, ihr Leben zu retten. (Die Yalda-Nacht ist ein iranisches Fest, das in der Nacht der Sommersonnenwende heute noch von den Völkern des relativ weitläufigen iranischen Kulturkreises gefeiert wird. Es ist Brauch, im Kreise von Freunden und Familie Gutes zu essen und aus der Gedichtesammlung von Hāfez zu rezitieren. Es ist auch üblich, ein Feuer zu entzünden, das für Licht und Hoffnung steht ...)
Maryam soll in der TV-Show auf die Tochter jenes um einige Jahrzehnte älteren Mannes treffen, mit dem sie in einer "Zeitehe" verheiratet war. Mona ist der einzige Mensch, der Maryam vor der Todesstrafe retten kann. Mona's Vater war wohlhabender Unternehmer und hat Maryam's Familie nach dem Tod ihres Vaters finanziell unterstützt. Als Maryam's Vater stirbt, ist die Tochter 14 Jahre alt. Dankbar für die Unterstützung der Familie, ist Maryam bereit, auf die Avancen des wohlhabenden Mannes einzugehen. Als Bedingung für die Verbindung auf Zeit gilt jedoch als ausgemacht, dass Maryam alles unternehmen muss, um nicht schwanger zu werden. Die Verantwortung dabei obliegt einzig der jungen Frau, die sich jedoch sehr nach Mutterschaft sehnt. Als Maryam hochschwanger ist, geraten die "Eheleute auf Zeit" in Streit, als dessen Folge der Geschäftsmann zu Tode kommt. Der Unfall wird als Mord gewertet, was Maryam das Todesurteil und den Hass der Tochter Mona einbringt.
In der populären Begnadigungs-Show "Joy of Forgiveness", deren Motto "Vergebung bereitet mehr Freude als Rache“ lautet, muss Maryam nun einerseits versuchen, Mona dazu zu bringen, ihr zu vergeben, und andererseits muss sie auch das Publikum dazu bringen, für ihr Überleben zu stimmen. Während die junge Frau um ihr Leben zittert, rezitiert ein berühmter iranischer Filmstar aus Gedichten von Hāfez, und die Mitarbeiter*innen des Fernsehstudios versuchen alles, um die Show für die Zuschauer*innen noch interessanter zu gestalten.
Was zunächst nach ohnehin grausamstem fiktionalem Filmstoff klingt, erweist sich nach den Recherchen des Regisseurs als reale Geschichte. Massoud Bakhshi, der 1972 in Teheran geboren wurde, erklärt in Interviews, dass es im Iran eine populäre TV-Show dieser Art tatsächlich gibt. Wie im Film auch, geht es demnach in dieser Sendung ebenfalls um zum Tode verurteilte Häftlinge. Der Show ist vor allem im Ramadan jährlich großer Erfolg beschert. Auch die Mutʿa-Ehe (arabisch, "Ehe des Genusses", persisch: "Sigheh-Ehe"), zu deutsch eine "Ehe auf Zeit", ist tatsächlich immer noch verbreitet. Diese Ehe kann auch für einen Zeitraum von 30 Minuten(!) geschlossen werden - da muss Frau nicht besonders viel Fantasie bemühen, um sich vorstellen zu können, worauf die Verfechter dieser Verbindung hinauswollen: Der Mann, der sich der Geschlechtsteile einer Frau bedient, hat sich seine Welt wieder einmal aufs Schamloseste zurechtgebogen - während die Frau missbraucht und entwürdigt wird, bleibt dem Teufel in Person das "Vergnügen"! Und es ist klar, dass sich Männer auch nicht darum kümmern, wenn Frauen nach solchen Geschlechtsakten auch noch mit den Folgen von ungewollten Schwangerschaften zu kämpfen haben.
Dieser Film muss zweifelsohne als Spiegelbild der prekären gesellschaftlichen Verhältnisse im Iran gesehen werden! Mir bleibt nur, wieder einmal blankes Entsetzen über den Zustand der Menschheit kundzutun. Ich kann mir vorstellen, dass angesichts solcher Zustände auch die Geister Rumi's und Hāfez' keine Ruhe finden ...
Foto: CristiYor, Pixabay.com
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