Ein offenes Ohr eines DU, wenn wir uns verloren fühlen, was macht es mit uns Menschen? Und vor allem, was macht es mit uns Menschen, wenn wir über Erlebtes ins Schweigen fallen?
Mir verschafft es Erleichterung, wenn ich mit einem Menschen, von dem ich mich verstanden und gesehen fühle, über das, was mich bewegt, sprechen kann. Manchmal finde ich auch als Folge solcher Gespräche zu Entscheidungen.
In diesem Beitrag geht es um Gewalt und ihre Folgen, aber auch um die Aussicht, diese zu stoppen. Ich nehme einiges vorweg, wenn ich meiner Überzeugung Ausdruck verleihe, dass Gewalt nur gestoppt werden kann, wenn ihre Ausmaße bekanntwerden.
"Gewalt beginnt nicht bei physischen Übergriffen und schon gar nicht bei einem tatsächlichen Mord – sondern bei Abwertung, Kontrolle, verbaler und psychischer Gewalt", lese ich in einem sehr gut verfassten aktuellen Artikel hier.
Österreich ist in den letzten Jahren in die Schlagzeilen geraten, weil die Zahlen der Femizide extrem hoch sind. Außerdem ist Österreich in der EU das einzige Land, in dem jährlich mehr Frauen als Männer ermordet werden.
Blenden wir aber auch niemals aus, dass auch Frauen zu Täterinnen werden können!
Durch Frauen ausgeführte Gewalt wird allerdings seltener entdeckt, weil solche Taten Frauen kaum zugetraut werden.
Was also gibt Verbrecher*innen Macht, während sich die, gegen die sich zahlreiche Verbrechen richten, ohnmächtig fühlen?
Ganz bestimmt verhilft das Schweigen der Menschen, gegen die Verbrechen begangen wurden / werden und das Schweigen derer, die davon wussten / wissen, Täter*innen zu Macht und Dominanz. Sie können ihre Ungeheuerlichkeiten ungehindert fortsetzen.
"Darüber reden" oder "darüber schreiben" heißt für mich übrigens nicht, dass Menschen, denen Unrecht widerfahren ist, unbedingt den Weg in die breite Öffentlichkeit suchen müssen. Aber innerhalb des vertrauten Umfeldes ist es wichtig, sich Gehör verschaffen zu können. Und es ist für Gewaltopfer auch von größter Wichtigkeit, zu wissen, wo sie Hilfe von Institutionen und ihren Mitmenschen bekommen können.
Im Film "Women Talking" ("Die Aussprache" ), den wir aktuell (in der Originalfassung mit Untertiteln) gesehen haben, kommen acht Frauen am Dachboden einer Scheune zusammen, um über Unfassbares, das ihnen von den eigenen Männern angetan wurde, zu sprechen; etwas, für das sie viel zu lange gar keine Worte fanden. Sämtliche Frauen und ältere Mädchen, die in einer religiösen Gemeinschaft von Mennoniten leben, haben in Folge dieser Besprechung eine Entscheidung zu treffen und dafür haben sie nur zwei Tage Zeit: Die Männer, die zu ihrem eigenen Schutz inhaftiert sind (!eine verstörende Täter-Opfer-Umkehr!), erwarten, dass ihnen von den Frauen verziehen wird. Falls sich die Frauen dazu nicht durchringen könnten, sei es auch vorbei mit einem ewigen Leben. Den Frauen wurde stets eingeredet, sie seien (von Kuhbetäubungsmitteln völlig weggetreten) von Dämonen vergewaltigt worden. Oder sie seien von Gott für ihre Aufmüpfigkeit bestraft worden. Als es schließlich eine Zeugin gibt, die einen der Männer fliehen sieht, wird den Frauen klar, dass sie handeln müssen. Bildung ist für diese Frauen übrigens nicht vorgesehen - wozu lesen können, wenn die Bibel doch auswendig gelernt ist? An der Seite der Frauen gibt es einen einzigen Mann, zu dem sie Vertrauen haben, dies ist der Lehrer der Kinder, dessen Mutter einst die Kolonie verließ.
Von den acht Frauen werden drei Möglichkeiten erörtert: *Bleiben und vergeben, *bleiben und kämpfen oder *die Kolonie verlassen.
Für alle diese Frauen ist es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie frei über ihre Sprache verfügen können: "Wir sprachen nie über unsere Körper. Ohne die Sprache blieb nur ein Abgrund des Schweigens. Und dieses Schweigen war der wahre Horror."
Ich wünsche dem großartig gedrehten und gespielten Film sehr viel Aufmerksamkeit, da die Themen des Films, nämlich toxisches männliches Verhalten und seine Folgen in der Vergangenheit und Gegenwart (aber auch in der Zukunft, wenn in unserer Welt dem Patriarchat nichts oder zu wenig mit tatkräftiger Entschlossenheit entgegengesetzt wird) einerseits und weibliche Solidarität andererseits unbedingt große Aufmerksamkeit erfahren sollen. Szenen mit dargestellter Gewalt sind übrigens nicht zu sehen, im Mittelpunkt steht die oft auch emotional geführte Diskussion über die Möglichkeiten, wie die Frauen mit all den ungeheuerlichen Verbrechen und ihrer Zukunft umgehen können. Was, wenn sie in Freiheit wären? "Wenn wir uns befreit haben, müssen wir uns die Frage stellen, wer wir sind."
Die Dreharbeiten zum Film wurden übrigens - und das finde ich sehr erwähnenswert - von der Traumatherapeutin Dr. Lori Haskell begleitet. Das Buch zum Film stammt von Miriam Toews, deren eigene Wurzeln in einem mennonitischen Umfeld liegen. Der Stoff zum Buch basiert auf realen Begebenheiten in einer Mennonitenkommune in Bolivien; 2010 kam es zur Verurteilung mehrerer Vergewaltiger zu mehrjährigen Haftstrafen.
Es gibt praktisch keinen Ort, an dem es nicht zu Verbrechen dieser Art kommen kann. Das ist eine riesige Schande - und ich frage mich, welchen Beitrag wir, jede*r einzelne von uns, dazu leisten können, um daran etwas ändern zu können? Meine Antwort ist wahrlich keine neu gefundene, sie ist nur die, dass wir hinschauen, beobachten, hinhören, zuhören, einordnen - und handeln müssen! Meine Antwort speist sich gerade aus meiner intensiven Arbeit mit Kindern und ihren Familien.
Was mich ganz besonders empört, ist die Tatsache, dass sich auch Frauen zu Komplizinnen von (ihren) Männern machen: Dies, indem sie entweder wegschauen oder weil sie diverse Taten sogar rechtfertigen und auch fördern.
In meiner langjährigen Arbeit in Kinderbetreuungseinrichtungen war der Fokus oft darauf ausgerichtet, den Kindern mit Migrationshintergrund (kaum jemand hatte österreichische Wurzeln) und ihren Eltern nahezubringen, dass in unserer Lebenswelt alle Menschen gleichwertig sind und diese auch aufgrund ihrer Religion, ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung nicht diskriminiert werden dürfen. In vielen Stunden, die wir an diesen Themen auch mit Expert*innen zusammengearbeitet haben, zeigte sich stets deutlich, wie tief patriarchales Denken und Handeln sowie uralte Glaubenssätze in den Köpfen, Herzen und Seelen von Kindern verankert sind. Ich erinnere mich an ungläubiges "Staunen" der Buben und Mädchen darüber, dass es in Österreich Gesetze gibt, die Zwangsehen und Gewalt in jeder Form unter Strafe stellen. Besonders deutlich wurde auch, dass für viele Mädchen ganz klar war, dass die Traditionen ihrer Kulturen weiterzutragen sind, darin wurden sie auch von ihren Müttern, Großmüttern und anderen weiblichen Verwandten angeleitet. Ich schreibe hier nicht nur über Kinder (sechs- bis zehnjährige) mit islamischem Hintergrund, ich möchte auch das prägende Lebensumfeld jener nicht außer Acht lassen, die aus asiatischen Kulturen stammen. Auch hier treffen wir mitunter auf sehr kinder- und frauenverachtende Strukturen, deren Prägungen in Gesprächen mit jungen Menschen allzu offensichtlich werden. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das uns Mitarbeiter*innen bei einem Verhalten, das es selbst nicht in Ordnung fand, immerzu seine ausgestreckten Handflächen entgegenhielt - in Erwartung von Schlägen, die offensichtlich in ihrem familiären Umfeld mit einem Holzlineal oder -stock ausgeführt wurden. Dies wurde übrigens von der betreuenden Verwandten des Kindes wenig glaubwürdig bestritten, doch so ein beobachtetes konditioniertes Verhalten kann ja durchaus eingeordnet werden.
An dieser Stelle mein Buchtipp: In "Tausend strahlende Sonnen" von Khaled Hosseini erfahren zwei afghanische Frauen, die von ihrem gemeinsamen Ehemann sehr schwer misshandelt werden, großen Rückhalt in ihrer Freundschaft und in ihrer gelebten Solidarität. Nur so ist ihnen ein Entrinnen aus ihrer schrecklichen Situation möglich.
Schauplatzwechsel
Vor kurzem war ich wieder einmal in Wien. Und landete bei meinem Tagesausflug zufällig an der Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte. In den Jahren nach Hitlers abgeschlossener Machtergreifung und während des zweiten Weltkrieges kam es zu unvorstellbaren Verbrechen an Millionen von jüdischen Mitmenschen. Größtes Unrecht bestand nicht nur in all den Grausamkeiten an Seelen und Körpern so vieler Menschen; als großes Unrecht muss auch gewertet werden, dass viele jüdische Familien enteignet wurden. Diese Enteignungen fanden nicht nur an Bankkonten, Kunst und Immobilien statt, sondern auch an geistigem Eigentum.
Die Dokumentation "Alices Buch - Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten" bringt anhand der Recherchen der bekannten Historikerin Katarina Urbach Fakten über die Arisierung des erfolgreichen Kochbuches ihrer Großmutter, der Wiener Jüdin Alice Urbach, ans Tageslicht. Die Dokumentation ist höchst sehenswert, zeigt sie doch auch, dass Unternehmen mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit immer noch alles anders als ehrenhaft umgehen.
#Leben #Frauen #Kommunikation #Solidarität #Menschsein #DU #Buchtipps #Filmtipps Foto: Pixabay, Bob Dmyt
Liebe C Stern,
ein großes, sogar riesiges Thema, das Du hier ansprichst. Gewalt in Familien, Ehen, Gewalt als Tradition in einigen fremden Kulturen, gegen Frauen, gegen Kinder. Es ist wichtig, darüber zu reden und zu schreiben, den Betroffenen zuzuhören. Nicht alle reden über das Schlimme, was ihnen widerfahren ist – aus Angst, aus Scham, sogar aus Rücksicht. Aber vielleicht tun sie es doch, wenn sie merken, dass sie verstanden werden und Hilfe bekommen.
Du kennst ja meine Haltung zu diesem Thema. Vielleicht ist mein Weg der Offenheit nicht für jede / jeden der richtige, vielleicht braucht die eine oder andere einfach nur ein offenes Ohr, einen Rat eines anderen Menschen, um für sich die Lösung zu finden und eine Entscheidung…
Danke, C Stern. Ich neheme diesen Artikel als Anlass, noch genauer hinzusehen, niemals wegzuschauen und wenn nötig zu intervenieren und die allfälligen Konsequenzen zu tragen.
Courage nennt sich das.
Wenn wir uns das alle vornehmen, wäre schon viel getan.
Einen lieben Gruss,
Brigitte