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Eine Zeitreise




Orte der Kindheit: Sobald ich meine Fotos betrachte, die beim Besuch des in Oberösterreich gelegenen Freilichtmuseums Stehrerhof entstanden sind, führen mich meine Erinnerungen automatisch zurück in meine Kindheit. Ich darf da mittlerweile schon ein paar Jahrzehnte zurückreisen. Ein paar Jahrzehnte, die - natürlich subjektiv empfunden - viele Jahre ergeben. Und es wäre wohl auch reine Illusion, zu glauben, dass ich die Anzahl dieser Jahre, die ich auf meinem Weg des Lebens bereits zurückgelegt habe, noch vor mir hätte ... Zu meinen ausdrücklichen Lebenszielen zählt es jedenfalls nicht, als (Über-)Hundertjährige aus dem Fenster zu steigen und zu verschwinden.


Ich stöbere gerne in meinen zahlreichen Fotos aus frühen Kindertagen. Damals war ich wohl alles andere als fotoscheu. Ich habe in unterschiedliche Kameras gelächelt, mich nicht selten auch übermütig verhalten. Je älter ich wurde, desto öfter habe ich mich allerdings den diversen Fotografen gegenüber verschlossen gezeigt. Ich selbst bin achtsam im Umgang mit der Kamera; bevor ich einen Menschen fotografiere, frage ich stets nach, ob es gestattet ist.

Bis zu meinem zehnten Lebensjahr, als mein Großvater durch einen betrunkenen Autofahrer in der Vorweihnachtszeit aus seinem und auch meinem Leben gerissen wurde, war mein Großvater mütterlicherseits ein herausragend wichtiger Mensch in meinem noch recht jungen Leben. Dieser Verkehrsunfall hinterließ fortan eine riesige Lücke in meinem Leben, die bis heute nicht ganz geschlossen ist. Ich fühle noch immer eine seelische und herzliche Verbindung zu meinem Großvater, ich sehe ihn recht deutlich vor mir, in all seiner Körperlichkeit; woher sein etwas tapsiger, unsicherer, manchmal auch schwankender Gang rührte, das habe ich nie herausgefunden. Ich habe allerdings schon als Kind bemerkt, dass mein Großvater eine ganz eigenartige Brille hatte: Ein Brillenglas war ganz anders als das zweite gefertigt. Mein Opa, wie ich ihn nannte, war ein bescheidener Mann, der es liebte, für sein Hab und Gut tüchtig anzupacken. Nach getaner Arbeit hielt er jeden Arbeitstag mit einigen Notizen in einem Buch fest. Bei seinen Notizen war ich gerne geduldige und neugierige Beobachterin. Dabei hat mich immer fasziniert, wie sich seine Einträge angefühlt haben: Mit kräftigem Druck hat er den Kugelschreiber über die Zeilen und Kästchen geführt, sodass das Papier ganz wellig wurde. Dieses Gefühl, mit der Hand über all die Wellen und Aufwerfungen zu streichen, welche die Buchstaben und Zahlen auf dem Papier geformt haben, habe ich schon als Kind gemocht. Von meinem Großvater sind mir außer den Fotos auf materieller Ebene zweiundzwanzig Worte geblieben, fünf Ziffern, acht Punkte, ein Rufzeichen und vier zartrosa Blümchen: Sein Eintrag und seine Zeichnung in mein Stammbuch aus dem Jahre 1977.

Ein Grund, warum ich heute noch Notizbücher liebe, die ich gern selbst mit allerlei Zitaten, Gedichten, Interviewsätzen oder kurzen Texten befülle, liegt womöglich auch an meinen Beobachtungen meines Großvaters, an seinem Zufriedensein mit seinen Notizen. Ich glaube, ich habe bei ihm gespürt, wie es gelingen kann, sich innerlich zu sortieren, wenn man schreibend betrachtet.

Meine Oma war ebenfalls ein Mensch, bei dem die Hände immer viel zu tun fanden. Gemeinsam mit dem Opa kümmerte sie sich um ein Feld, das alljährlich eine reiche Kartoffelernte ermöglichte. Auch sonst gab es jede Menge rund ums Haus zu tun und eine besondere Zeit war für uns immer, wenn mein Opa gemeinsam mit seinem Sohn, meinem Onkel, aus den vielen Äpfeln und Birnen im Garten den herbstlichen Most zauberte.

Im Winter oder auch an jenen Frühlings-, Sommer- und Herbsttagen, an denen das Wetter keinen Aufenthalt im Freien zuließ, haben wir uns meistens im Wohnzimmer beschäftigt: Von meiner Oma habe ich das Stricken gelernt, das Sockenstricken im Besonderen.


An das Ernten auf dem Kartoffelfeld kann ich mich noch bestens erinnern, weil meine Schwester und ich diese Ernten auch mit unserer kindlichen Tatkraft begleitet haben. Wenn der Opa mit dem Traktor aus dem Scheunentor fuhr, dann war's für uns Kinder klar, dass uns ein herrlich aufregender Tag zwischen all den Kartoffel- und Maisfeldern erwarten würde: Mit Kübeln, Schaufeln und Rechen zogen wir los, um mit großer Begeisterung emsig nach den Früchten des Feldes zu wühlen, die wir Erdäpfel nannten. All das krabbelnde, kriechende oder sogar davonfliegende Getier, das sich in den Ritzen, Rillen und Erdspalten zeigte, wurde staunend untersucht und manchmal leider wohl auch unnötig gequält.

Überhaupt waren wir zu unserer großen Freude von vielen Tieren umgeben, ein Schäferhund ist in den Bildern, die auftauchen, ebenso wie eine Katze, nach der wir Kinder oft gerufen haben. Manchmal, so erinnere ich mich, hat sie inmitten des Vorhauses eine kleine Maus aus ihrem Mäulchen entlassen, mit der sie sich dann lange gespielt hat, was von vernehmbarer Angst der bedauernswerten Maus begleitet wurde: Sie muss ihr Schicksal wohl schon vorausgeahnt haben! Gleich angeschlossen an das Vorhaus verbrachten wir im Stall viele Momente bei einer Kuh, die wir durchaus auch unerschrocken aus der Nähe bestaunten. Ob die Kuh wohl Susi geheißen hat? Wir glauben, uns daran zu erinnern. Ihr zur Seite gab es auch zwei Schweinchen, deren manchmal plötzlich einsetzendes, nicht einschätzbares Grunzen uns Kinder mitunter von weiteren Erkundungsbesuchen fernhielt.

In der alten Scheune sorgten ein paar Kaninchen für glänzende Kinderaugen, sie wurden mit Begeisterung von uns liebkost. Und im eigens für glückliche Hühner angelegten riesigen Gartenbereich konnte eine Schar Hühner, von einem streitsüchtigen Hahn angeleitet, ihr Dasein genießen. Das Eierabtragen aus den Nestern habe ich gewissenhaft als meine Aufgabe wahrgenommen; wenn die Eier noch warm waren, habe ich meine Tätigkeit besonders gerne verrichtet. Wenn die Dämmerung anbrach und nachdem die Hühner auf ihren Hühnerstangen Platz genommen hatten, versicherte sich Oma nochmals, ob auch das Schlupfloch zum Hühnerstall gut verschlossen war, um nur ja keinem Fuchs als Hühnerdieb eine Chance zu geben.

Abends, nach der Arbeit auf dem Feld, im riesigen Garten oder in den Gemüse- und Obstbeeten vor dem Haus, saßen wir alle gemütlich auf der Gartenbank, umgeben von zahlreichen liebevoll gepflegten Bäumen, Sträuchern und Blumen. Unsere erdigen und sandigen Kinderfüße mussten wir vor dem Schlafengehen in Schaffeln mit Wasser und Kernseife reinigen. Auch die Tante und der Onkel durften auf der Gartenbank nicht fehlen, ebenso wie der Haushund, der Rolfi, mit dem immer zu rechnen war. Meine Großeltern waren dabei beide mit dem gesprochenen Wort sehr zurückhaltend, ich fühlte mich in sommerabendliches Wohlgefühl gebettet, rechtschaffen müde von des Tages herrlichen Abenteuern.

Und auch das Schlafengehen lief nach einer besonderen Abfolge ab: Oma sorgte stets dafür, dass wir artig unsere Hände falteten und unser Abendgebet aufsagten, sobald unsere kleinen Körper unter den rot oder blau karierten Tuchenten, den Geruch der allgegenwärtigen guten alten Kernseife wahrnehmend, verschwunden waren. Mein Blick ruhte dabei oft auf den Heiligenbildern, die sich im Schlafzimmer befanden, zu Jesus und zu seiner Mutter Maria pflegte meine Oma eine besonders innige Beziehung. Im Anschluss an unser Kindergebet gab es noch eine Zeremonie mit dem geweihten Wasser, das die Oma immer reichlich verwendete: Sie tupfte dabei zwei Finger in ein Wandgefäß, um gleich darauf das auf den Fingern befindliche Weihwasser in alle Richtungen zu spritzen. So gab sie an ihre lieben Verwandten in Gedanken einen Segen weiter, was ihr sehr wichtig war.

Der Opa musste während unserer Aufenthalte auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen; ob das für ihn bequem war, hat sich mir allerdings nie erschlossen.


Meine Erinnerungen führen auch in den etwas eigenartig, aber für mich nicht unangenehm riechenden Keller des geräumigen bäuerlichen Hauses: In diesen dunklen und großen Raum schlich ich mich, wenn Oma ihre legendären Bauernkrapfen oder gebackenen Mäuse vor Kinderhänden sicher verwahren wollte, was ihr allerdings nie so richtig gelingen sollte. Viel zu köstlich war das verführerische Süßgebäck!

Meine Oma konnte vorzüglich backen und kochen, mit Zutaten aus dem eigenen Garten und mit Eiern, deren Dotter gelborange leuchteten! Auch ihr Apfelschober, einfacher Teig, der Äpfel auf oberösterreichisch einhüllt, war ein Gedicht, ebenso wie ihre herrlich gelben Palatschinken ein wahrer Seelenschmaus waren. Stets in kräftigem Umfang und frisch vom Ofen weg mit selbstgemachten Marmeladen reich gefüllt, sind diese herzhaften Oma-Palatschinken unvergessen. Und auch, wenn Bratltag war, war für mich ein Freudentag! In meinem ganzen Leben habe ich nie wieder ein Schweinsbratl gegessen, das sich mit dem aus Omas altem Holzofen hätte messen können. Der Holzofen, mein Herzstück des Hauses, befeuerte auch direkt den Kachelofen im Wohnzimmer, dessen Wärme ich selbst an frühen Sommermorgen gerne genossen habe: Im Haus meiner Großeltern war es sogar an heißen Sommertagen tagsüber durchaus erfrischend, die Mauern hielten die Hitze des Tages davon ab, in die Wohräume einzudringen. Auf einer warmen Ablagefläche des Ofens befand sich zu jeder Jahreszeit ein Häferl, in welchem leicht gesüßter Kamillentee auf freudige Zustimmung meinerseits hoffen durfte.

Eine ganz besondere Zeit für lukullische Genüsse war zweifelsfrei immer Weihnachten: Das Wohlgefühl, das ich mit weihnachtlichen Düften verbinde, ist in meinen Erinnerungen fest verankert.

Dass ich überhaupt zu einem sehr sinnesfreudigen Menschen heranwuchs, hat sicherlich viel mit Erlebtem im Großelternhaus zu tun. Wie ich überhaupt von Herzen dankbar bin für diesen einzigartigen Ort des Friedens und der Freiheit; selbst, wenn dieses Zuhause heute in dieser einzigartigen Weise nur noch in meiner Erinnerung Bestand hat.

Lange zuvor, als mein Opa zu meinem Opa wurde, gab es auch, hervorgerufen durch den zweiten Weltkrieg, im Haus meiner Großeltern Zeiten voller Ängste und Nöte. Meine Mutter, 1940 geboren, erzählte früher oft, von den russischen Soldaten Geschenke bekommen zu haben. Sie erzählte von Blei- und Buntstiften.

In diese Zeiten fällt auch das so schreckliche Ereignis der "Mühlviertler Hasenjagd". Noch deutlicher als meine Mutter sich früher erinnern konnte, kann sich mein Vater, Jahrgang 1938, daran erinnern. Auf den Feldern sah er im Februar 1945 Männer herumirren, unterkühlt, ausgemergelt und verzweifelt. Einmal sah er sie sogar im Vorhaus des bäuerlichen Hauses seiner Eltern, besonders erinnert er sich daran, dass sie keine Schuhe trugen, ihre Füße waren nur in Fetzen gehüllt: Es waren russische Soldaten, die aus dem KZ Mauthausen ausgebrochen waren und bei allen Menschen darum flehten, nicht verraten zu werden. Diese von vielen Schrecken begleitete Vergangenheit beschäftigt mich immer wieder und natürlich habe ich die heutige Gedenkstätte im KZ Mauthausen als junge Erwachsene auch betreten. Den beeindruckenden, unter dem Regisseur Andreas Gruber entstandenen Spielfilm über die Ereignisse rund um diese so grausame Menschenjagd möchte ich an dieser Stelle empfehlen! Gerade in unserer Gegenwart macht er auch Hoffnung, eine Hoffnung auf wahre und gelebte Menschlichkeit.

Als mein Großvater als junger Mann von der Kriegsgefangenschaft in Russland endlich zurückkehrte, wurde 1947 der Bruder meiner Mutter geboren. Mein Onkel sollte auch zu einem sehr geliebten Menschen in meiner Kindheit werden, ebenso wie meine Tante, seine Frau. Innere Bilder steigen in mir hoch, Momente, Tage, Wochen ... wunderschöne Zeiten. So oft sind Fotos aus dieser Zeit schon durch meine Hände gegangen. Manchmal teile ich meine Erinnerungen mit Menschen, die mir sehr nahe sind. Das eine oder andere Foto weckt erstaunte oder erheiterte Ausrufe, wenn man deutliche Spuren meines Kindergesichtes in meinem Erwachsenengesicht zu erkennen vermeint.


Dieser eine, so spezielle und sehr geliebte, mich in meinem Sein formende Ort meiner Kindheit - ich kehre so gerne mit großer Liebe und Dankbarkeit zurück! Heute, so viele Jahre danach, mehr in meinen Gedanken, als ich dies tatsächlich vollbringe.

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