Die Demenzerkrankung meiner Mutter begann wohl, wie bei vielen Menschen, auch bei meiner Mutter schleichend. Zumindest ist das meine Wahrnehmung.
Meine Schwester und mein Schwager haben im Sommer 2015 geheiratet. Mein Neffe war damals zweieinhalb Jahre alt - eine glückliche kleine Einheit, die im Kreise von Familie, Verwandten und Freunden einen wunderbaren Tag verbracht hat.
Rückblickend und in Kenntnis der darauffolgenden traurig machenden Entwicklungen war dies wohl die letzte Phase ihrer uns nun entwachsenden Persönlichkeit, in der sich meine Mutter noch annähernd so zeigte, wie wir sie immer erlebt haben: Bei eingehendem Rückblick allerdings unterhielt sie sich an diesem so schönen Tag schon etwas weniger mit unseren Jugendfreunden, fragte einiges bei uns Kindern unsicher nach, kommentierte weniger, lachte verhaltener, genoss jedoch sichtlich die Speisen vom Buffet und rauchte ihre Zigaretten. Ich habe diesen kleinen Besonderheiten wohl an diesem speziellen Tag noch keine große Aufmerksamkeit geschenkt.
Heute kann ich nicht mehr zuordnen, ob mir damals schon deutliche Verhaltensweisen aufgefallen sind, die angezeigt haben, dass sich der Verstand meiner Mutter aus ihrem Sein in unterschiedlichem Tempo, jedoch unaufhörlich zurückzieht. Was mir jedenfalls damals schon auffiel, war, dass sie an diesem Hochzeitstag keine typischen "Oma-Verhaltensweisen" an den Tag legte. Als wir uns mit unseren engsten Verwandten vor der Trauung zum Mittagessen trafen, gab es einen Moment, an dem mich meine Mutter ganz intensiv verblüffte - im Moment des Geschehens war ich auch fassungslos und verärgert, weil sie sorg- und achtlos in ihrem Handeln war: Als sie sich auf einem schmalen Gehsteig neben einer von Autos befahrenen Straße eine Zigarette anzündete, drehte sie sich von meinem kleinen Neffen weg, entließ ihn von ihrer Hand und widmete sich nur noch ihrer Zigarette, das kleine Kind schien es nicht mehr in ihrem Bewusstsein zu geben. Dieses Erlebnis war für mich überraschend, denn meine Mutter war bis zu diesem Zeitpunkt stets ein eher überbesorgter Mensch, der immer mehr befürchtete, als dann Gott sei Dank nicht so eintraf.
Meine Mutter war vor meiner Geburt mit Leib und Seele ihrer Berufung als Krankenschwester verschrieben und diese Zeit war mit Sicherheit die glücklichste ihres Lebens. Gerade in den letzten Monaten erzählt sie besonders oft davon, wobei sie jetzt nicht mehr - so wie ich sie stets kannte - ihre Heldentaten schildert, sondern immer nur von der gleichen, von ihr hochgeachteten Person spricht - sie wiederholt sich dabei ständig in ihren Darstellungen. Vor einigen Monaten noch war sie allerdings felsenfest davon überzeugt, beruflich noch einmal in ihrem geliebten Pflegeberuf Fuß fassen zu können. Auch typisch für einen an Demenz erkrankten Menschen: Er kann sich ab einem bestimmten Verlaufszeitpunkt der Krankheit zeitlich und örtlich nicht mehr orientieren, im Falle meiner Mutter bedeutet das, dass sie nicht mehr weiß, wie alt sie ist - auch Jahreszeiten kann sie nicht mehr zuordnen.
Besonders dann, wenn wir beide in früheren Jahren eine unserer zahlreichen Auseinandersetzungen hatten, explodierte es ganz deutlich aus ihr heraus, dass wir Kinder ihr Leben nicht so erfüllen konnten, wie es ihr Beruf einst vermochte. Im Rückblick ist mir klar, dass unsere Mutter ihr Leben komplett anders visionierte; jedenfalls war mein Vater sicherlich nach der Hochzeit nicht mehr der Prinz für sie, für den sie ihn möglicherweise vor der Eheschließung gehalten hatte.
Für meinen Vater war meine Mutter auf ihre Weise sicherlich die perfekte Versorgende, denn was praktisches Handeln und medizinisches Wissen betraf, war meine Mutter jedenfalls über viele Jahre in dieser Hinsicht eine umsichtige Partnerin. Dass sie äußerst ungern "nur Hausfrau" war, hat sie in fünf Jahrzehnten als Ehefrau bei jeder sich bietenden Gelegenheit formuliert. Nicht gerade selten erzählte sie auch von Träumen, die sich allerdings in der Realität niemals erfüllten: Materielles spielte dabei für meine Mutter immer eine riesige Rolle; Geld auszugeben war für sie wohl eine Art Trostpflaster dafür, dass ihre kühnen Mädchenträume weitgehend unerfüllt blieben - ein Leben mit einem Mann, der ihr einen größeren Luxus hätte bieten wollen. Es ist ihr allerdings relativ unbemerkt gelungen, über viele Jahre unzählige Kleidungsstücke, Putzmittel, Krimskrams und Dekorationsstücke anzuhäufen, die jetzt eine große Wohnung unangenehm anfüllen und überhaupt keine Verwendung finden oder in Vergessenheit geraten sind. Auch dies ein oft typisches Thema bei Demenzkranken: Wohnräume werden häufig unbewohnbar, weil diese vermüllen und eine Entsorgung oftmals überhaupt nicht im Sinne des Erkrankten ist - Auseinandersetzungen sind hier praktisch vorprogrammiert!
Es ist übrigens immer wieder erstaunlich, wie schnell sich meine Mutter heute in einer sehr rüden Ausdrucksweise zurechtfindet, wenn sie jene Menschen mit Schimpf und Schande belegt, die sie für die Verhinderer ihres geträumten Lebens hält. Es ist meiner Mutter leider nie gelungen, viele Stachel aus ihrem Herzen zu ziehen, so hätte sie sicherlich Rosengärten in sich entdecken können ...
Wutausbrüche sind typisch für Menschen mit dieser Erkrankung, ebenso wie sie andere sofort als Diebe verdächtigen, wenn sie Gegenstände nicht mehr finden. Diese Verdächtigungen werden zu ständigen Begleitern im Beziehungsleben meiner Mutter, denn ihre Schlüssel sind häufig verlegt - wie auch viele andere Gegenstände.
Tatsache ist, dass sich bei meiner Mutter, so lange ich zurückdenken kann, oft Träume und Realität vermischt haben und zwar soweit, dass ich es auch unzählige Male derart erlebt habe, dass sie sich in der Folge zahlreiche Ausreden für Unerledigtes und ebenso Unwahrheiten zurechtgezimmert hat. Heute glaube ich, es war ihre Art, dieses Leben, das nicht nach ihrem Sinn war, zu ertragen. Auch ihr Gedankenpalast ihrer ungelebten Realität gerät nun, da ihre Erkrankung schon sehr weit fortgeschritten ist, sehr häufig ins Wanken, und es erfüllt uns, ihre Kinder, mit großem Schmerz, dass sie sich immer weiter in sich zurückzieht.
Mein Verhältnis zu meiner Mutter war über viele Jahre sehr angespannt, weil ich viele Verhaltensweisen, die ich an ihr beobachten konnte, einfach nicht verstehen konnte. Meine Schwester hat immer schon eine starke Zuneigung zu unserer Mutter gelebt. Meiner Schwester sind auch früher als mir Veränderungen im Wesen unserer Mutter aufgefallen. Mamas Erkrankung hat allerdings in mir ein starkes Bedürfnis ausgelöst, sie zu beschützen und alles zu organisieren, was sie in ihrem Sein gut unterstützt. Dabei erweisen sich meine Schwester und ich als sehr gutes Team und dafür bin ich mit großer Dankbarkeit erfüllt. Wir haben lange gezögert, Pflegepersonen zu organisieren, weil wir Mamas Abneigung gegen "Fremde" in ihrer Lebenswelt allzu genau kennen. Doch im Spätsommer des Vorjahres mussten wir endgültig diesen Prozess einleiten, der auch mit vielen Terminen bei Ärzten, weiteren Fachleuten und Institutionen verbunden war und ist. Wir können uns glücklich schätzen, dass sich nun sehr liebevolle Menschen um unsere Mutter kümmern.
Familiäre Entscheidungen gestalten sich äußerst schwierig, aufreibend und zeitlich aufwendig, da unser Vater leider - trotz unzähliger Beratungsgespräche bei Fachleuten in den letzten Jahren - über keinerlei Einsicht in ihre Erkrankung verfügt. Er wehrt sich nach Kräften dagegen, einzusehen, dass mit meiner Mutter keine Vereinbarungen mehr getroffen werden können, da sie diese nicht mehr umsetzen kann. Zudem war sie früher schon eine sehr eigensinnige Person, was sich jetzt natürlich verstärkt - es gibt tägliche Konflikte in meinem Elternhaus und dies auch, weil mein Vater in seinem Selbstmitleid gefangen ist.
Es ist für meine Schwester und mich sehr herausfordernd, in solchen Situationen ruhig zu bleiben, da wir uns so sehr würdevolle letzte Lebensjahre für unsere Mutter wünschen. Ich gerate immer wieder in Situationen, in denen sich Trauer und Ärger in mir bemerkbar machen, da es offensichtlich niemandem gelingen kann, bei unserem Vater Empathie und Verständnis für seine Frau zu wecken.
Dabei weiß ich, wie wichtig es ist, immer auch gut für mich selbst zu sorgen, da der Energieaufwand häufig zu spüren ist. In den letzten Monaten habe ich vermehrt vernommen, wie hilfreich es ist, meine Hobbys und wichtige Beziehungen zu pflegen, denn darin finde ich Erholung, Trost und Unterstützung. Als sehr hilfreich empfinde ich auch Gespräche mit Fachleuten und ich zögere nicht, diese Möglichkeiten anzunehmen.
Foto: C*