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Familienbande



























Anlass unseres Familientreffens: der 80. Geburtstag meines Vaters!

Mein Vater und ich - wir hatten sehr schwierige Momente in unseren Begegnungen, in beiden Herzen Härte, viel Unverständnis - für die Tochter, für den Vater -, Abneigungen, gegenseitige Vorwürfe.

Weder in meiner Kindheit noch in meiner Jugend war mein Vater in all seinen Emotionen, Aktionen und Reaktionen für mich fassbar. Er verstand viel von Politik und Wirtschaft, doch er wusste nicht, welche die Bedürfnisse seiner Kinder waren.

Die Verletzungen, die mir zugefügt wurden, das Gefühl, nicht gesehen zu werden - all das hat auch mich zu einem verletzenden Wesen gemacht. Wie oft war ich verzweifelt und auch wütend auf mich selbst, meine Familienbande nicht abschütteln zu können! Erst jenseits meiner frühen Erwachsenenjahre begann ich zu ahnen, dass ich ein riesiges Sehnen nach Heilung hatte. Ich erkannte, dass ich einen Weg finden musste, diese Bande nicht mehr als bedrohliche Fesseln wahrzunehmen.

Verzeihen ist ein Prozess - in meinem Leben ein fortwährender. Im Hinterfragen meiner Wurzeln und meines Seins wurde mir bereits vor Jahren bewusst, dass mir ein erfülltes Leben ohne Verzeihen und liebevolles Loslassen nicht möglich sein würde.

Herausfordernde Momente - manchmal sind sie noch immer da, ergeben sich in unseren familiären Begegnungen im Hier & Jetzt, doch ich prüfe meine Vorhaltungen rascher als früher. Ich lasse auch Empörung zu, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass erst in der Distanz zu einer hitzigen Auseinandersetzung eine ehrliche Aufarbeitung stattfinden kann. Spätestens dann befasse ich mich auch mit meinen eigenen Verhaltensweisen.

Meine Erfahrung ist, dass die Gnade des Verzeihens nur dort ansetzen kann, wo es zu einer ehrlichen Aussprache kommt. Unmut und Ärger sollen nicht unter der Decke bleiben, sie würden diese später wieder anheben und ein dunkles Gefühl würde wieder hervorkriechen.

Das Leben - mit all seinen Aufgaben und Prüfungen - es ist mein Lehrmeister. Mitunter scheinbar ein harter Lehrmeister, zumindest auf den ersten Blick.

Das Leben, mein Leben - es flüstert mir ständig zu, frei zu werden. Und Grenzen, auch durch eigene Glaubenssätze gezogen, zu überwinden.

Zurückblicken, erinnern, so manche Ge_danken.

Immer öfter Rückblicke in ganz frühe Tage meines Lebens.

Immer öfter Erinnerungen an schöne Zeiten meines Lebens.

Immer öfter auch Anerkennung und Respekt - für meinen Vater.

Wachstum, in uns beiden. Zuhören, ausreden lassen. Auch den Schmerz meines Vaters spüren.

Mit dem Zuhören und Ausreden lassen hat mein Vater manchmal noch immer Schwierigkeiten. Ich versuche, geduldiger, großzügiger zu sein. Andererseits möchte ich auch meine Bedürfnisse nicht mehr zurückdrängen. In der Begegnung mit meinem Vater greife ich immer wieder nach einer Balancierstange. Meine Beziehung zu meinem Vater bringt mir heute allerdings auch viele freudvolle und dankbare Momente.

Wir haben bereits vor einigen Wochen gemeinsam beschlossen, uns aus Anlass seines Geburtstages in einem gemütlichen, eher ländlichen Gasthaus zu treffen und gemeinsam zu essen.

Meine Schwester ist es, die meistens die Initiativen setzt. Familie ist ihr wichtiger denn je.

Das Thema "Essen" hatte in unserer Familie immer eine große Bedeutung: Nicht unbedingt, besonders genussvoll zu essen, sondern besonders gesund. In unserer Kindheit und Jugend zog dieser väterliche Anspruch also keinesfalls meinen Jubel nach sich, denn dies bedeutete, dass unsere Mutter keine "leckeren Kuchen" backen sollte, sondern den Auftrag hatte, nur Wertvolles zu verarbeiten und auf den Tisch zu bringen - Zucker etwa war für meinen Vater ein perfektes Feindbild!

In frühe Kinderjahre reichen meine Erinnerungen zurück, als sich mein Vater bereits für die von mir mit größtem Argwohn betrachtete "Körndlnahrung" interessierte, auch das Wort "bio" hielt bald Einzug in mein Sprachverständnis. In den 1970er-Jahren galten Menschen, die sich bevorzugt von pflanzlichen Lebensmitteln oder gar "Körndln" ernährten, in unseren Breiten gewiss als Aussteiger und Spinner.

Dass es bei uns damals zu keiner totalen "Verkörndelung" unserer Nahrungsaufnahme kam, hatte auch mit der Verweigerung meiner Mutter zu tun, sich eine Getreidemühle zuzulegen. Das Brot selbst zu backen, konnte sie mit List verhindern; ebenso ist es meinem Vater nie gelungen, Fleisch von unserem Tisch zu verbannen. Später hat er seine Meinung dahingehend geändert, dass man sich doch nicht zu einseitig ernähren solle.

Mit Genuss auch einmal ein bisschen zu "sündigen", hat mein Vater erst in seinen späteren Lebensjahren geschafft, als er sein Berufsleben hinter sich gelassen hatte. Wenn ich heute höre, dass er unbedingt zu seinem Tee, den er regelmäßig nach der Mittagsmahlzeit zu sich nimmt, ein Stück Mehlspeise haben möchte, freut mich das sehr. Heute darf es auch einmal Zucker und sogar Schlagobers sein - beides war früher "Pfui!" Inzwischen fühlt er sich von seiner Lieblingsmehlspeise, einer köstlich schmeckenden Roulade mit Erdbeermarmelade, sogar in einen "Glückszustand" versetzt und meint damit, die positiven Auswirkungen des Dinkelmehls zu verspüren. Hildegard von Bingen hat übrigens dem Dinkel bereits zu ihrer Zeit attestiert, er schenke "ein aufgelockertes Gemüt und die Gabe des Frohsinns".

Die Herrlichkeiten auf unserem Mittagstisch erfüllen tatsächlich alle Erwartungen und ich bin sicher, das Geburtstagskind und wir nehmen nicht nur Genussreiches, sondern auch Gesundes zu uns. Ein gutes Gewissen ermöglicht also einen würdigen Abschluss unserer ersten Nahrungsaufnahme.

Unsere Tischgespräche geben unter anderem einen Einblick in das nicht mehr ganz untadelige Verhalten meines Neffen im Kindergarten. Auch hat sich seine Kindergartenfreundin inzwischen geweigert, in ferner Zukunft die Mutter seiner zahlreichen Kinder zu werden und außerdem mit den von ihm gewünschten Haustieren "Gassi" zu gehen. All diese Geschichten amüsieren mich - nicht ganz unbemerkt - sehr. (Bei Tisch soll die Freude den Vorsitz führen, heißt es in einem deutschen Sprichwort.)

Im Anschluss an einen gelungenen Aufenthalt im "Wia z'haus" lockt es meinen Vater - doch nicht nur ihn! - natürlich zu Tee und Kuchen. Es dauert seine Zeit, bis wir die dafür stimmige Konditorei finden, wie sich allerdings herausstellt, ein echtes Juwel: Mein Vater ist der Erste an der Kuchen- und Tortenvitrine, rasch entscheidet er sich für eine besonders kalorienreiche Köstlichkeit. Obwohl ich mir vorgenommen habe, mich an der Mehlspeisvitrine zurückzuhalten, kann ich der Auswahl nicht widerstehen - wenigstens den Fruchtbelag verbuche ich unter "gesund".

Unsere kleine Runde wird von meinem Neffen unterhalten, der einige seiner Lieblingsspielfiguren auspackt. Als ihm diese nicht mehr interessant genug erscheinen, wendet er sich dem Tellerchen zu, auf dem zwei Varianten Zucker angeboten werden, zusammen mit einer Pinzette, mit der sich die begehrten süßen Stückchen anmutig ins Getränk platzieren lassen. Da sich mein Tee allerdings bereits jener Süße erfreut, die mir angenehm ist, bin ich nicht sofort geneigt, meinem Getränk ein weiteres Stück Würfelzucker hinzuzufügen. Doch ich korrigiere in Gedanken meine Entscheidung, da ich erkennen kann, welche Freude es dem jungen Mann bereitet, seine Mitmenschen zu "verzücke(r)n".

Meine Schwester beobachtet ihren Sohn argwöhnisch, da er sich in letzter Zeit anscheinend besonders von Süßem angezogen fühlt. Er hat Spaß daran, zuckeraffinen Menschen ein Stück Süße in ihr Getränk zu tun und köpft deshalb auch allzu gerne kleine Zuckersäckchen, was seine Eltern inzwischen nicht mehr entzückt. Meine Schwester findet also mahnende Worte für ihren Sohnemann, das Zuckertellerchen in Ruhe zu lassen. Mein Neffe deutet mein vernehmbares Bedauern darüber auf seine Weise: Er, der sich im zarten Alter von nicht einmal fünf Jahren äußerst scharfsinnig und trickreich durch sein Leben bewegt, überlegt blitzschnell, wie er es anstellen kann, dass ich - unbemerkt von meiner Schwester - zu einem weiteren Stück Würfelzucker in meinem Tee gelangen könnte. Mit verschwörerischer Miene pirscht er sich an mich heran und flüstert mir ins Ohr: "Ich lenke die Mama ein bisschen ab, dann kannst du noch ein Stück Würfelzucker nehmen!" Sein Plan wäre sicherlich gelungen, doch begeistert von der entzückenden Idee meines heldenhaften Neffen breche ich in Heiterkeit aus und kläre den Rest der Familie auf, was denn der junge Mann schon wieder ausgeheckt hat.

Typisch für meinen Vater, der aussehensmäßig noch locker mit so manchen 70-Jährigen mithalten kann, ist, dass er Familienzusammenkünfte nützt, um aus seinen regelmäßig gelesenen Zeitschriften zu zitieren. Obwohl er sich nicht selten über Inhalte einer bestimmten Zeitschrift, die ihm wohl schon zu zeitgeistig geworden ist, ärgert, konnte er sich noch nicht dazu durchringen, sein Abonnement zu kündigen. Schließlich ist er mit 80 Jahren immer noch äußerst interessiert an technischen Fortschritten und Möglichkeiten, an den Erfolgen österreichischer SchisportlerInnen, sowie an politischen und gesellschaftspolitischen Vorgängen. Auch die Fortschritte in der Welt der Medizin verfolgt er mit wachem Verstand, und es kommt nicht selten vor, dass ihn nach Gelesenem bestimmte Symptome befallen.

Auch diesmal hat er einen Artikel dabei, aus dem er einige Stellen zitiert: Es ist ja auch abenteuerlich, wenn sich Menschen beim Autofahren zu sehr auf ihre Navigationsgeräte verlassen - tatsächlich, die Technik kann einem gar arge Streiche spielen! Als vielleicht skurrilste Geschichte gilt derzeit die Irrfahrt einer Belgierin durch halb Europa. Die Pensionistin wollte in Brüssel einen Freund vom Bahnhof abholen, wovon sie rund 80 Kilometer entfernt war. Es kam allerdings ganz anders, denn die Dame verließ sich auf ihr Navi und legte in zwei Tagen fast 1400 Kilometer zurück, ohne an den Anweisungen ihres Navis zu zweifeln. Erst in Zagreb fiel ihr auf, dass die Angaben nicht stimmen konnten.

Während unserer Unterhaltung, die hauptsächlich von meinem Vater und meinem Neffen geführt wird, ist meine Mutter sehr verhalten im Hintergrund, ihre Aufmerksamkeit zielt mehr auf ihr Tortenstück. Meine Mutter hat es in all den Jahren selten geschafft, das unverbrauchte Zuckersäckchen auf dem Teller zu belassen, schließlich gehörte es ja stets zu ihrem Café dazu. Diesmal jedoch findet der Inhalt des Säckchens weder in ihren Café noch in ihre Handtasche, sondern landet zur Verblüffung aller direkt in ihrem Mund, angesichts einiger Proteste von schelmischem Grinsen begleitet. In diesem Moment sehe ich meine Oma vor mir, die allzu gerne Süßes vom Tisch stibitzte, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Der Tadel meiner Mutter war ihr jedes Mal sicher, denn Oma hatte ja Diabetes! Wie sehr meine Mutter der Oma doch ähnelt: Im Alter sind beide wieder zu Kindern geworden.

Es sind schöne und lustige Stunden, die ich mit meiner Familie verbringe.

Unser irdisches Leben, es ist endlich, das ist mir allzu schmerzlich bewusst. So bin ich dankbar für jeden schönen Moment, in dem das Wesentliche in unserer Mitte zu spüren ist: die Freude daran, dass wir uns noch haben!


Foto: C*

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