Während wir in der Realität immer wieder an Grenzen stoßen, die durch Gesetze, Vorgaben und Normen definiert werden oder wir uns auch von gesellschaftlichen Zwängen begrenzt fühlen, erfährt die Fantasie ihren Handlungsspielraum ausschließlich durch das jeweilige individuelle Vorstellungsvermögen jedes einzelnen Menschen. Dabei erhebt die Fantasie den Anspruch einer sehr engen Verwandtschaft zur Kreativität, weil beides ein denkerisches Vermögen beinhaltet, das sich in gewisser Weise von der Realität abhebt.
Kinder verstehen es hervorragend, sich ihrer Vorstellungskraft auf das Fantasievollste zu bedienen. Dabei erweist sich die Vorstellungskraft im Kindesalter auf dem Zenit ihres Ausdrucksvermögens. Kaum jemals wieder wird die Vorstellungskraft eines Erwachsenen an die fantasievollen Höhenflüge in der Kindheit heranreichen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertraten Psychologen noch die Auffassung, Kinder müssten ihre Fantasiewelt hinter sich lassen, um zu mündigen Erwachsenen zu werden.
In unserem Jahrhundert warnen jedoch immer mehr Fachleute aus den Bereichen der Hirnforschung und Pädagogik davor, den Fokus bei der Förderung von Kindern zu sehr auf Rationalität und kognitive Lernziele zu legen. Immer deutlicher zeigen Forschungsergebnisse, dass gerade im freien Spielen jene Gehirnregionen angeregt werden, die für Fantasie und Kreativität verantwortlich sind - wesentliche Voraussetzungen dafür, alte Welten zu verlassen und auf Neues zuzugehen; zu entdecken, zu begreifen, zu verstehen, zu lernen.
Erwachsene, die den viel freieren Gedankenkosmos der Kinder nie ganz verlassen haben, können auch Jahre und Jahrzehnte später noch auf wahre Schätze zugreifen, die sie in weiser Voraussicht vor unserer Welt der Richtlinien und Vorschriften in Sicherheit bringen konnten.
Wenn Menschen allerdings nur noch nach vielen Regeln, Vorgaben und Vorschriften funktionieren, wird das kreative Denken dramatisch eingeschränkt, werden Fantasie und Kreativität so weit ins Abseits gedrängt, dass man wohl lange danach graben müsste, um sie wieder befreien zu können.
Fantasie und Kreativität sind die wichtigsten Verbündeten von Menschen, die ihr Künstlersein zum Ausdruck bringen wollen. Wie versetzen uns doch unzählige Vertreter und Vertreterinnen der bildenden Kunst immer wieder in Staunen - egal, in welchen Epochen diese, von wunderbaren Gaben gesegneten Menschen ihre Werke hervorgebracht haben! Und genauso braucht es auch im Bereich der darstellenden Kunst zu jeder Zeit Menschen, die ihr Vorstellungsvermögen möglichst unbegrenzt in Neuartiges einbringen.
Wo es die Fantasie vermag, Buchseiten mit fantastischen Geschichten zu füllen oder graue Leinwände mit zauberhafter Lebendigkeit zu durchdringen, wird sie von Kindern und auch von Erwachsenen mit BeGEISTerung angenommen. Alles, was wir mit Begeisterung annehmen, nährt unseren Geist nachhaltig, bewegt uns und lässt uns auch zu Forschenden und Lernenden werden. So kann Begeisterung zweifellos auch als Atem, der Lebendigkeit entfacht, verstanden werden. Und so brachte es auch einst der Philosoph Ralph Waldo Emerson auf den Punkt: "Nichts Großes ist je ohne Begeisterung geschaffen worden."
Ich gehöre zu jenen Menschen, die Filmen mit Fantasie-Elementen nicht abgeneigt sind. Als eines der großartigsten Film-Märchen der letzten Jahre empfinde ich Guillermo del Toro's filmisches Epos "The Shape of Water". Del Toro verstand es aus meinem Empfinden meisterlich, die aufkeimende Liebe zwischen einer stummen Reinigungskraft und einer amphibischen Kreatur zu inszenieren. Wie der Regisseur die Geschichte über eine absolute Außenseiterin und einen Amphibienmenschen, der in einem geheimen Forschungslabor der US-Regierung gefangen gehalten wird, behutsam und doch so eindringlich mit Gesellschaftskritik verwoben hat, hat in mir große Freude und auch beeindrucktes Staunen ausgelöst. Mich begeistert dieser Film; er ist in meinen Augen ein mit viel Fantasie und Herz realisiertes Plädoyer für Menschlichkeit und Solidarität.
Auch in allen Bereichen, wo Forschungen betrieben werden, bedarf es unbedingt eines Vorstellungsvermögens, das eben nicht durch bisherige Erfahrungen und Erkenntnisse begrenzt wird. Zweifelsohne sind alle Erfahrungen und daraus resultierendes Wissen von größtem Wert, denn nur darauf können wir aufbauen. Und indem das menschliche Gehirn in der Lage ist, über bekanntes Terrain mittels Forschergeist und Fantasie hinauszuschreiten, können unbekannte Räume entdeckt werden.
Wenn Du Fantasie nur mit zauberhafter Lebendigkeit in Verbindung bringen möchtest, solltest Du an dieser Stelle nicht mehr weiterlesen. Denn nachfolgend wende ich mich den Abgründen in menschlichen Seelen zu.
Meine Gedanken zu einem so viele Aspekte umfassenden Bereich, nämlich dem der "Fantasie", kann ich nicht zu einem Ende bringen, ohne zuvor noch auf die sehr bittere Kehrseite der Fantasie einzugehen.
Fantasie gilt auch als Voraussetzung für die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen und diese zu verstehen. Dieser Fähigkeit bedienen sich auch Narzissten, denn auf diese Weise können sie ihre Mitmenschen genauestens - auf eine durchaus intuitive Weise - analysieren und in der Folge auch manipulieren. Was Narzissten allerdings fehlt, ist die Fähigkeit zum Mitgefühl.
Vor allem Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung können solche Machtfantasien entwickeln, die im extremsten Fall zur Tötung von Menschen führen. In diesem Zusammenhang sei auf den Frauenmörder Jack Unterweger hingewiesen, der es mit seinem untrüglichen Gespür für das, was er in Menschen auslösen konnte, zu einer Meisterschaft der Manipulation brachte. Ein einziger Mord konnte Unterweger nachgewiesen werden, für diesen verbüßte er ab Juni 1976 eine Gefängnisstrafe. In dieser Zeit ließ er seine literarische Begabung erkennen und so konnte er mehrere Bücher veröffentlichen, die ihm sogar einen Literaturpreis einbrachten. Er durfte aus dem Gefängnis auch Geschichten für ein Kinderprogramm im österreichischen Rundfunk, "Das Traummännlein", liefern.
Ich erinnere mich bestens daran, als ihn zahlreiche heimische Intellektuelle Ende der 1980er-Jahre vorzeitig entlassen sehen wollten - was schließlich auch erreicht wurde. Seine Aura der Unschuld, die Unterweger nach seiner frühzeitigen Entlassung bei seinen legendären Auftritten im österreichischen Fernsehen wohl verbreitet haben wollte, hat er seinerzeit auch optisch geradezu fantastisch zur Geltung gebracht: Sein stets blütenweißer Anzug (selbstverständlich mit Blume im Knopfloch), in dem er zahlreiche Menschen dazu verführt hat, ihn, den Wortgewandten und Intellektuellen, für unschuldig zu halten, ließ ihn auch fast so erscheinen. Aber eben nur fast!
Schon bald nach Unterwegers Entlassung begann eine Serie von Morden, die auch in die USA führte. Alle weiblichen Opfer wurden mit ihrer Unterwäsche, die zu einem sehr eigentümlichen Henkersknoten geformt war, stranguliert. Im Februar 1992 wurde Jack Unterweger in Miami verhaftet; das Urteil, das am 29. Juni 1994 ausgesprochen wurde, führte schließlich zu Unterwegers Suizid: In der darauffolgenden Nacht strangulierte er sich in seiner Zelle mithilfe der Kordel seiner Jogginghose - wie bei den Opfern der Mordserie zeigte der Knoten der Kordel die gleichen eigentümlichen Merkmale.
Serienmörder und Massenmörder eint ein oftmals geradezu gigantisches Ausmaß an Geltungsdrang, der zusätzlich noch von Machtfantasien begleitet wird. Diesen Individuen fehlt es in jeglicher Hinsicht an Empathie, ihre sadistischen Fantasien scheinen jedoch grenzenlos - Ziel ist es, ihre Opfer zu beherrschen.
Wir erinnern uns an dunkelste Zeiten in Europa, als das NS-Regime Millionen von Menschen als Staatsfeinde brandmarkte, Millionen von Menschen entmenschlichte und als gefährlich darstellte, die einfach vernichtet werden sollten. Wie begeistert waren allzuviele, den Vernichtungsaufrufen Folge zu leisten!
Weiteres zum Thema "Narzissmus" findest Du hier:
Bild: peter_pyw, Pixabay.com