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Systemsprenger


Benni, ein neunjähriges Mädchen, gibt sich aggressiv und impulsiv und hat bereits einige Erfahrungen in Pflegefamilien und Wohngruppen sowie mit diversen Therapien gesammelt, doch nirgendwo scheint Benni dauerhaften Halt und Zuwendung zu finden.

Benni kann nirgends bleiben, da sie durch ihr unberechenbares Verhalten in keine Institution oder Familie integriert werden kann, auch von der Schule muss sie suspendiert werden. Eine dem Mädchen sehr zugewandte Mitarbeiterin des Jugendamts engagiert daher einen Anti-Gewalt-Trainer, der ihr Schulbegleiter wird. Als Benni erneut auffällig wird, verbringt sie mit ihrem Trainer auf dessen eigenen Vorschlag hin drei Wochen im Wald. Allmählich fasst Benni Vertrauen zu Micha und so möchte sie fortan, aus tiefster Sehnsucht, auch in einer Familie leben zu wollen, bei Micha und seiner Familie bleiben.

Als Micha erkennt, dass er jegliche professionelle Distanz zu Benni verloren hat, taucht Bennis Mutter wieder auf und verspricht ihrer Tochter, diese wieder zu sich zu holen. Das ist Bennis sehnlichster und brennendster Wunsch. Doch Bennis Mutter kann, weil sie psychisch sehr instabil ist, ihr Versprechen nicht halten, was die Situation weiter zum Eskalieren bringt. Aus Sicht der behandelnden Ärztin gibt es nur noch einen Ausweg für Benni und der soll sie nach Afrika führen.

Den Film, in Deutschland umgesetzt, empfinde ich als sehr gelungen, gibt er doch völlig ungeschminkt wieder, welche Herausforderungen Familien und vor allem viele Kinder in unserer Zeit anzupacken haben. Unsere soziale Eiszeit bringt es mit sich, dass es schwieriger denn je ist, Kindern ein intaktes Familienleben anbieten zu können. Kinder brauchen familiäre Stabilität und wenn sie auf diese nicht bauen können, ist es umso wesentlicher, dass sie in ihrem weiteren Umfeld von Bezugspersonen umgeben sind, denen sie vertrauen können, um Halt zu finden. Dieser Halt ist absolut wesentlich, nicht nur in der Kindheit und Jugend, sondern auch in Hinblick darauf, wie ein späteres Leben bewältigt werden kann.

Der Begriff "Systemsprenger" ist nicht unumstritten und doch vereint sich darin so vieles, was man in der Arbeit mit Kindern und auch in der Zusammenarbeit mit ihren Eltern und Institutionen erleben kann.

Die pädagogische Arbeit mit Kindern wird in unserer Gesellschaft - das bekomme ich immer wieder zu hören - mitunter sehr geringgeschätzt. Vielen Menschen ist tatsächlich nicht klar, was in pädagogischen Einrichtungen und Bildungsinstitutionen geleistet werden muss, und unter welch harten Bedingungen dies häufig stattfindet.

Außer Zweifel steht, dass in den vergangenen Jahren die Gewaltbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen stark zugenommen hat, wenn dies auch immer wieder noch - mir völlig unverständlich - von so manchem heruntergespielt wird. Auffällig ist ebenso, dass es selbst innerhalb des Polizeiwesens zu unterschiedlichen Einschätzungen kommt und diese erklären sich für mich u.a. so, dass Gewalt, die von Kindern ausgeht, noch nicht in Akten erfasst wird (Österreich). Es wird jedoch seit geraumer Zeit vor allem im städtischen Raum mehr und mehr versucht, ausgesuchte MitarbeiterInnen der Polizei in die Kinder- und Jugendarbeit einzubinden.

Diese Fachleute sind es dann auch, die wissen und beobachten, dass Gewalteskalationen in Kindereinrichtungen defintiv zunehmen - und dies nicht nur unter Kindern, sondern auch gegenüber den MitarbeiterInnen. Es gibt nichts zu verharmlosen, denn die Faktenlage ist jedem, der sich im Zentrum des Geschehens befindet, ganz eindeutig! Es sind nicht nur die Medien, die in diesem Zusammenhang berichten und den Fokus auf dieses Thema lenken; es ist definitiv eine Tatsache, die von Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, hautnah und oft mit größter Verzweiflung erlebt wird!

Da PädagogInnen an ihren Ausbildungsstätten dahingehend bisher nicht ausgebildet wurden, fehlt es natürlich meistens auch an klaren Strategien, wie mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen deeskalierend umgegangen werden kann. In vielen Gesprächen und Diskussionen erlebe ich letztendlich hilflose und ausgebrannte LehrerInnen und HortpädagogInnen: Das Rufen nach intensiverer Zusammenarbeit mit SozialpädagogInnen, GewaltpädagogInnen, MigrationsexpertInnen, Polizei, Jugendgerichtsbarkeit und psychiatrischen Einrichtungen wurde lange von jenen, welche am Schreibtisch (an recht bequemen Positionen!) die Rahmenbedingungen für die pädagogische Arbeit schaffen, überhört. Ganz zart fühlt sich allerdings derzeit meine Hoffnung genährt, wenn ich höre, dass nun endlich auf der politischen Ebene in einigen Bundesländern darüber nachgedacht wird, alle diese ExpertInnen ins Boot zu holen. Ebenso wird - längst überfällig - über einen besseren Austausch unter diesen Institutionen nachgedacht, was der seit längerem bestehende, sehr strenge Datenschutz derzeit unmöglich macht. Wichtig ist, dass es hier nicht zu Landesgesetzen kommt, sondern dass diese Herausforderungen auf Bundesebene bearbeitet werden und Lösungen auch mit dem Bundesgesetzgeber ausgearbeitet werden.

Für so manche meiner ehemaligen Schützlinge kommen diese Überlegungen freilich (zu) spät, denn sie haben sich längst in der Gewaltspirale verfangen, ihre Kontakte mit diversen Behörden und der Polizei sind aktenkundig, Gefängnisaufenthalte inklusive.

Die Geschichten, die solchen Karrieren vorangehen können, sind ausgefüllt von Vernachlässigung durch Eltern, von elterlicher Gewalt, von äußerst fragwürdigen Erziehungsmethoden, von überforderten Eltern, von mangelnder liebevoller Bindung innerhalb von Familien. Auch die Erschöpfung von Eltern fällt mir immer stärker auf, sie sind häufig eingespannt in eine immer forderndere Arbeitswelt, die ihren Tribut verlangt.

Es spielt definitiv eine Rolle, welche Vorbilder Kinder erleben, ob nun in der Realität oder in Videos, Filmen und Spielen.

Auch das Thema Migration muss ausgesprochen werden dürfen, ohne dass es zu falschen Unterstellungen und Verdächtigungen gegenüber dem Aussprechenden kommt: Es ist bedauerlich, wie schnell man damit konfrontiert ist, angeblich "ausländerfeindlich" zu sein, nur weil man thematisiert, was genau so vorhanden ist: Kriege und politische Unruhen in den Herkunftsländern vieler Kinder und Jugendlicher verursachen enorme psychische Schäden - wenn diese rohe Gewalt nicht ausreichend und auf individuelle Art und Weise aufgearbeitet wird, finden manche keinen anderen Weg, als diese Gewalt weiter fortzusetzen. Diese Kinder und Jugendlichen haben in martialischen Welten gelebt, wo Gewalt als Prinzip gelebt wird! So verwundert es auch nicht, wenn sich nicht nur gewaltbereite Buben und Burschen, sondern auch Mädchen und junge Frauen auf ihre Weise äußern!

In diesem Zusammenhang soll auch noch darauf hingewiesen werden dürfen, dass Pädagoginnen (weiblich!) nicht immer auf ein respektvolles Verhalten von Burschen oder so manchen Vätern hoffen dürfen. Ganz klar auch ein Umstand, der mitunter den Arbeitsalltag sehr nervenaufreibend sein lässt!

Es bedarf enormer gesellschaftlicher und gemeinsamer Anstrengungen, auf all diese Entwicklungen lösungsorientiert und ohne Scheuklappen zu reagieren. Und es kann nicht sein, dass das Suchen nach echten Lösungen in der Politik mittels Parteipolemik zerzaust und verzögert wird!

Wer bereit ist, sich mit den Leidensgeschichten von jungen Menschen, die verhaltensauffällig agieren, wahrhaftig auseinanderzusetzen, der wird zweifelsfrei erkennen, dass es immerzu die Abwesenheit von positiven Vorbildern, Halt, Liebe, Respekt und Frieden ist, die Gewaltexplosionen zur Folge hat.


Bild: www.pixabay.com

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