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Es ist nie zu spät. Bis es zu spät ist.



Prokrastination - ein Wort, dessen Bedeutung ich lange nicht beachtet habe. Obwohl ich durchaus Erfahrung damit habe, also im praktischen Sinn. Und sehr überspitzt gemeint.

"Extremes Aufschieben" wird als pathologisch eingestuft. Extrem ist meine gelegentliche Aufschieberitis sicherlich nicht, ich kann sie so einschätzen, wie sie viele andere Menschen auch von sich selbst kennen.


Es gibt nicht gleich einen Schiffbruch mit verheerenden Folgen, wenn ich Erledigungen, die mir lästig sind, ein bisschen vor mir herschiebe. Ich fühle mich nicht leidend, wenn ich meine Ablagetätigkeiten "auf morgen" verschiebe. Es gibt allerdings Menschen, für die eine pathologische Ausprägung ihres vertagenden Verhaltens tatsächlich schwerwiegende gesundheitliche Folgen hat. Wenn ich mich damit auseinandersetze, dann bin ich sehr froh, dass meine Form eine sehr alltägliche Form von Aufschieberei ist.


Ich bemerke, wie sehr ich es bedaure, wenn Menschen ein (notwendiges) Handeln oder auch wichtige Entscheidungen, selbst die Erfüllung von Wünschen (die sie selbst durchaus in der Hand hätten) über eine sehr lange Zeit vor sich herschieben, bis, ja bis der Zeitpunkt, an dem vieles möglich gewesen wäre, nicht mehr gegeben ist.

Wenn ich meinen Vater im Seniorenwohnhaus besuche, versuchen wir seit einiger Zeit, seine Erinnerungen wachzurufen. Vor einigen Jahren hat er ein Buch geschenkt bekommen, mit der Bitte, aus seinem Leben zu erzählen, für seinen Enkel. Er hat es immer aufgeschoben, sich damit zu beschäftigen. Es schien, als hätte ihn dieses Buch nicht interessiert. Überhaupt gibt es inzwischen nur noch wenige Themen, die ihm wichtig sind und über die er sich stundenlang unterhalten könnte: Seine Zeitungen, seine Nahrungsaufnahme, sein Stuhlgang und seine zahlreichen Ärztetermine. Darum kreist sein ganzes Denken, alles andere wird ausgeblendet. Ob ich meinem Vater in meiner Einschätzung gerecht werde? Jedenfalls wirkt sein Verhalten auf mich so - es ist meine Wahrnehmung.

Mein Vater hat nie gelernt, sich sozial verträglich zu verhalten. Das gibt er sogar zu, allerdings auf eine Weise, für die mir zunehmend die Geduld abhanden kommt: Sein Selbstmitleid ruft so manchen Ärger in mir wach, er hat dieses weinerliche Mitleid für sich selbst immerzu überdimensional vor sich hergetragen. Und sein unsoziales, oft auch brutal-attackierendes Verhalten, hat für viele Belastungen in seinem Eheleben und auch im Aufwachsen seiner Kinder gesorgt.

Sein Erinnerungsvermögen abzurufen, das gelingt bei manchen Themen besser, bei manchen nur sehr schwach und an vieles aus seiner Kindheit und Jugend, aber auch aus späteren Lebensjahren, kann er sich überhaupt nicht erinnern. Kann er sich nicht erinnern oder will er sich nicht erinnern? Gibt es Blockaden in seinem Gedächtnis, die seine Seele errichtet hat? Manchmal frage ich mich auch, ob es in seinem Leben (mein Vater wurde 1938 geboren) eine frühkindliche Traumatisierung gab? Es hat mich immer erstaunt, wie wenig er beispielsweise über seine Eltern wusste. Schon vor Jahren, als er geistig noch völlig rege war, ist mir das aufgefallen. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater jemals negativ über seine Eltern gesprochen hätte - er hat gar nie von sich aus über sie gesprochen. Auch Freunde aus seiner Kindheit und Jugend waren kein Thema, weder Namen hat er je genannt, noch gemeinsames Spielen oder andere Aktivitäten mit Gleichaltrigen.

In seinem Erinnerungsbuch stehen viele interessante Fragen, also frage ich und warte darauf, seine Gedanken notieren zu können. Wenn er erzählt, redet er meist zögerlich - ich schreibe: Sonst wird das nie was, mit diesem Buch. Er schreibt ja viel, aber nicht in dieses Buch. Er notiert sich seine Stuhlgänge und andere körperliche Auffälligkeiten für seine Arztstunden.

Seine Erinnerungen an seine Herkunftsfamilie weisen ganz viele Löcher auf. Wir versuchen, uns auch seinen Träumen zu widmen. Auch Reiseziele, an die er sich erinnert, sind gefragt. Da erlebe ich eine Überraschung, er hat einen Zeitungsartikel aufgehoben, über Cinque Terre. Und dann erzählt er, dass dieses Cinque Terre einst ein wahres Traumziel für ihn gewesen sei. Ich bin verblüfft - schon der Gedanke, wie er sich allein durch das Lesen sämtlicher Speisen in einer italienischen Speisekarte bedroht gefühlt hätte, kitzelt meine Lachmuskeln ... Mein Vater und italienische Speisen - undenkbar! Ich glaube, die italienische Küche, die er immer für ungesund und sogar lebensgefährlich hielt, hat ihn dann letztendlich doch von seinen durchaus mutigen Reiseplänen abgehalten ...


Szenenwechsel

Gartenfest im Seniorenwohnhaus, in dem meine Mutter ihren Lebensabend verbringt. Ein wunderbarer, liebevoll gepflegter Garten, geschmückt mit bunten Luftballons; feine Kuchen, Kaffee, Säfte und Würstchen erwarten uns. Ein musikalisches Duo singt Lieder, welche von den alten Menschen begeistert mitgesummt oder -gesungen werden. Immer mehr Menschen strömen in den Garten, es wird miteinander geredet und gelacht. Meine Mutter sitzt heiter neben mir und widmet sich ihrem Kaffee und Kuchenstück. Danach erkundet sie den blauen Himmel nach weißen beweglichen Streifen, die sie immerzu zählt und von denen sie fasziniert ist. Ein älterer Herr, in feine Kleidung gehüllt, nähert sich uns und verwickelt meine Mutter in ein Gespräch. Schließlich zeigt er sich am Alter meiner Mutter interessiert. Keck fordert ihn Mama auf, zu raten. Er meint, das habe er gerade gemacht - und er habe sich (sehr zum Vorteil der Dame) geirrt. Schließlich verrät ihm meine Mutter ihre vierundzwanzig Lenze. Der feine Herr guckt verblüfft und wendet sich ehrlich interessiert an mich, die Tochter. Ich verrate ihm Mamas wahres Alter, das sie entrüstet von sich weist: "Nein, ich bin keine dreiundachtzig Jahre alt." Jetzt will sie's wissen, sie will wissen, mit wem sie es zu tun hat und findet heraus: Der Mann ist Arzt, er kümmert sich um die Gesundheit des Herzens. Prompt gibt ihm Mama zu verstehen, dass sie ihn gerne in seiner Ordination unterstützen könnte. Der Herr Doktor lächelt galant und entzieht sich freundlich aus einer ungeahnten Bewerbungssituation.

Doch für meine Mama ist das keine Niederlage - schon wird sie von einer Betreuerin zum Tanz aufgefordert. Als ich die Betreuerin ablöse, gesteht mir meine Mutter, dass ihr Kreuz nach einer Pause verlange.

Ich bin glücklich, als ich meine Mutter verlassen muss, die Arbeit ruft. Ich weiß sie in bester Obhut und in vergnügter Gesellschaft. Sie ist freier denn je von schmerzvollen Erinnerungen, über meinen Vater hat sie schon lange nicht mehr gesprochen. Für meine Mutter hat sich ein Traum erfüllt, den sie lange geträumt hat: Sie lebt nun ihr eigenes Leben, mein Vater kann sie nicht mehr quälen. Dafür haben wir Kinder gesorgt ...

#Kinder #Eltern #Glück Foto: C* - unterwegs in Sachen "Urban Art"

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