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Berufung



Nachts, wenn alle anderen schlafen, scheint für meine Mutter Tag zu sein.

Immer schon war sie ein nachtaktiver Mensch. Schon lange hat meine Mama keinen "normalen" Schlafrhythmus mehr - und das hat auch mit ihrer Krankheit zu tun. Menschen, die an Demenz erkrankt sind, verlieren ihre zeitliche und räumliche Orientierung und sie werden sehr unruhig.


Seit bald zwei Jahren lebt meine Mama in einem Seniorenwohnheim. Hier leben mehrere Menschen, die an einer Form von Demenz erkrankt sind. Für Mama war dieser neue Lebensabschnitt auch eine Chance, wieder nette Kontakte zu pflegen. Sie war immer ein Mensch, der gerne andere Menschen um sich hatte. Menschen lagen und liegen ihr am Herzen - und das hat sich auch bei ihrer Berufswahl deutlich gezeigt.

Vor meiner Geburt übte meine Mutter mit Leib und Seele ihren Beruf jahrelang als diplomierte Krankenschwester aus, so lautete ihre Berufsbezeichnung damals noch. (Heute gilt dafür die Bezeichnung "Diplomierte*r Gesundheits- und Krankenpfleger*in".)

Noch lange, eigentlich bis vor kurzem, erzählte Mama gerne jedem, mit dem sie sich unterhielt, dass sie einst Krankenschwester auf einer chirurgischen Station war. Bis vor einem Jahr waren ihre Erinnerungen, die sie mit Menschen teilte, gerne gespickt mit bunten Erlebnissen rund um "ihre" Patient*innen. Ich erinnere mich, dass wir bei gemeinsamen Spaziergängen das eine oder andere Mal ehemalige Patient*innen trafen, die sie noch als Krankenschwester in bester Erinnerung hatten. Ja, ich bin überzeugt davon, dass meine Mutter ihren verantwortungsvollen Beruf auch mit größter Sorgfalt, Ernsthaftigkeit und mit viel Fleiß ausgeübt hat, für sie war der Beruf ein innerer Ruf, dem sie in jungen Jahren mit Begeisterung gefolgt ist. Wie sie als Kollegin war, da bin ich mir nicht ganz sicher. Ich kann mir vorstellen, dass ihr Ehrgeiz und ihr oft überdurchschnittlich großer Wunsch, gesehen zu werden, die eine oder andere Konkurrenzsituation geschaffen haben.

Nach der Geburt ihrer beiden Kinder gestattete mein Vater meiner Mutter nicht mehr, ihre geliebte Arbeit wieder aufzunehmen. In den 1970er und 1980er Jahren sah sich mein Vater in dieser Position auch von Politik und Gesellschaft gestärkt. Erst unter Johanna Dohnal - unsere erste und legendäre Frauenministerin (1991 - 1995) - erhielten wesentliche Forderungen von Frauen gesellschaftspolitisches Gewicht.

Unter ihrem Hausfrauendasein hat meine Mutter immer gelitten - und die Verweigerung des Ehemannes, ihr den Weg zurück ins Berufsleben zu ermöglichen, führte auch dazu, dass die Ehe meiner Eltern sehr unglücklich verlief. Ich erinnere unzählige sehr bittere und lautstarke, auch eskalierende Auseinandersetzungen, in denen ihre Sehnsucht nach dem Beruf ein Thema war. Mein Vater argumentierte stets sehr fadenscheinig, er wolle "keine Schlüsselkinder" haben. Sehr viel glaubwürdiger ist die Erklärung, dass mein Vater mittags nicht ins Gasthaus gehen wollte. Die kulinarische Versorgung durch meine Mutter wusste er zu schätzen, eine der wenigen ihrer vielen Fähigkeiten, die er anerkannte. Mein Vater wollte eine 24/7-Frau, die für ihn kochen, putzen, seine Wäsche waschen und ihm nie widersprechen sollte, zudem hatte sie seine persönliche Krankenschwester zu sein - und gerade in diesem Bereich waren ihre Befähigungen auch sehr oft gefragt: Mein Vater kann als Hypochonder bezeichnet werden, der auch schon mit Placebos behandelt wurde. In seiner maßlos erhöhten Selbstaufmerksamkeit forderte er auch die bedingungslose Aufmerksamkeit für seine (manchmal angeblichen) Leiden von meiner Mutter ein.

Im Übrigen hatten auch wir Kinder rücksichtsvoll zu sein, was bedeutete, am besten gar nicht aufzufallen.

Mein Vater wollte auch eine 24/7-Mutter für seine Kinder. Da gab es keinen Platz mehr für die Wünsche und Pläne meiner Mutter. Und so kam es, dass sich meine Mutter, als sich erste kleine Gelegenheiten ergaben, nach und nach um alte oder kranke Menschen in unserem Mehrparteienhaus zu kümmern begann, etwas, was mein Vater allerdings nicht so recht unterbinden konnte: Das hätte ein schlechtes Bild über ihn im Außen eingebracht. In seinen vier Wänden allerdings zeigte er seinen Unmut darüber und es macht mich heute noch fassungslos, welche Bestrafungsszenarien ihm dazu einfielen. Heute ist mir klar, dass mein Vater allerlei Verhaltensauffälligkeiten aufwies - und diese werden mit dem Alter noch verstärkt.

Seit Mama im Seniorenwohnheim lebt, kommt in ihr erneut ihr geliebter Beruf zum Ausdruck, was auch zu gefährlichen Situationen führen kann, weil sie rasch dabei ist, andere Menschen (mit Schluckproblemen) zu füttern. Man muss sie immer im Auge behalten ... Sie liebt es, ihre Mitbewohner*innen zu streicheln und zu trösten, zuzudecken - und manchmal stellt sie auch noch Diagnosen.


Seit einigen Tagen ist meine Mutter aufgrund ihrer äußerst schmerzhaften Arthrose und ihrer Ödeme im Krankenhaus. Ihre Zimmernachbarin erzählt von ihrer Nachtaktivität: Mama flattert von Bett zu Bett, deckt zu, streichelt Hände und Gesichter (obwohl die eigenen Hände bei Berührung schmerzen!), packt auch schon mal einen großen Zeh warm ein. Sie ist sehr unruhig und muss mit ruhiger Stimme angeleitet werden, dass sie sich wieder ins Bett begibt. Das kann dauern - und da kann auch Widerspruchsgeist hörbar werden. Die Zimmernachbarin leitet sie an: "Jetzt schlafen wir. Wir machen die Augen zu." Mama schaut die fürsorgliche Frau an, sie beobachtet mit unverwandtem Blick und auch ein bisschen misstrauisch - wie es oft auch ein kleines Kind tut. Und dann, wenn es ihr gefällt, dann macht sie mit.


Ich weiß, dass meine Mutter ihren Beruf und auch die Aufmerksamkeit, die er ihr zweifelsohne beschert hat, sehr geliebt hat. Ich hatte lange das Gefühl, dass ich ihr durch meine Geburt dabei im Wege stand, ihren Traum zu leben.

Erst Mamas so schwere Krankheit hat uns endgültig einander so viele gegenseitige Kränkungen verzeihen lassen ...


#Leben #Familie #Kommunikation #Kinder Foto: Pixabay, Gerd Altmann

20 Kommentare

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20 Comments


Rosa Ananitschev
Rosa Ananitschev
Mar 20, 2023

Es muss schwer sein, die eigene Mutter so zu sehen, ausgesetzt dieser tückischen Krankheit, und zu wissen, dass es kein Heilmittel gibt, dass ihre geistigen Fähigkeiten und das Gedächtnis immer mehr schwinden werden. Ich wünsche Deiner Mutter und Dir noch möglichst viel gemeinsamer Zeit. Deine Liebe tut ihr gut und verlangsamt sicher auch den Verlauf der Krankheit.

Herzlichst

Rosa

PS: Wie verschieden doch Deine Mutter und Dein Vater sind …

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C*
C*
Mar 20, 2023
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Liebe Rosa,

ich bin oft ratlos, wie es sein kann, dass die Medizin in manchen Bereichen so unglaublich fortgeschritten ist, dass beispielsweise schon künstliche Intelligenz ein großes Thema ist - aber es ist noch nicht geschafft, bei einer Krankheit, die mittlerweile eine Volkskrankheit ist, Heilmittel zu finden oder wenigstens ein Medikament, dass die Krankheit zuverlässig stoppt.

Meine Mama wird von ihren Kindern geliebt, aber leider können wir selbst damit ihre Schmerzen nicht nachhaltig lindern. Was die Demenzerkrankung betrifft, da ist Zuneigung ganz wichtig und hat auch sichtbare Auswirkungen. Demenzkranke sind sehr schnell aufgewühlt und verzagt, weshalb es wichtig ist, Stress soweit wie möglich von ihnen fernzuhalten. Wenn ich daran denke, was sie gestern aufgrund ihrer anhaltenden Schmerzen zu meiner Schwester…

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Andrea Heinisch
Andrea Heinisch
Mar 20, 2023

Wie genau du deine Mutter beschreibst, wie fokussiert und mit wie viel Verständnis. Wie selbstverständlich du die Verantwortung für deine Eltern übernimmst. Unvorstellbar zumindest für die meisten von uns, dass Ehemänner heute noch über die Berufstätigkeit und damit auch über die wirtschaftliche Unabhängigkeit ihrer Frau entscheiden. ...


Das ging mir durch den Kopf beim Lesen. Und dass sich das in eine mittlerweile echt lange Liste von Frauen, die ich kenne, einreiht, die ebenso selbstverständlich diese Hingabe an den Tag legen, die sogar noch weit in die Demenz hinein zu überleben scheint. Und bei den allermeisten liegen Eltern-Kind-Geschichten (Beziehungen) dahinter, die diese Hingabe alles andere als nahelegen.

Manchmal frage ich mich, ob es die Selbstverständlichkeit ist, in der unsere Eltern diese…


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C*
C*
Mar 20, 2023
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Hallo Andrea,

was für eine nette Überraschung, herzlich willkommen! Vielen Dank für Deinen Kommentar.


Ich kenne tatsächlich auch junge Frauen, denen der Zugang zur Arbeitswelt verwehrt wird. Ich habe ja über eine lange Zeit mit Kindern gearbeitet - die meisten von ihnen hatten Migrationshintergrund. Hier findet man immer noch Gegebenheiten, dass Frauen weder arbeiten noch - zusätzlich - das Haus allein verlassen dürfen. Dementsprechend haben sie auch keinen Grund, unsere deutsche Sprache zu lernen - und bleiben so leider auch völlig isoliert, woran sowohl die Ehemänner wie auch oft die Söhne(!) interessiert sind.

Und wenn ich mich an meine Volksschulzeit vor über vierzig Jahren zurückerinnere, dann wurden die wenigen Mütter, die (aus finanziellen Gründen) einer Arbeit nachgingen, eher mit leider…


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Roswitha
Roswitha
Mar 19, 2023

so voller liebe und verständnis erzählst du von deiner mutter, das bewegt mich. aber ich weiß auch, wie sehr diese krankheit die umgebung fordert. die forderungen alter kranker menschen können sehr ohne maß sein, ich habe es erlebt. der hausarzt sagte, ich solle unsere demente tante ins heim geben, sonst bekäme ich einen "herzschlag". nachtaktiv war sie auch, und wir schliefen mit offenen ohren. da habe ich bemerkt, dass ein mensch diese pflege allein nicht schaffen kann, ich jedenfalls nicht. noch schwerer ist es sicher, beide eltern alt und krank zu wissen, gut das es hilfe gibt. herzlichen gruß, roswitha

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C*
C*
Mar 19, 2023
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Liebe Roswitha,

ich erkenne gerade in Zeiten, die ich als so belastend erlebe, wie gut es tut, mich mit Menschen, die Selbiges oder Ähnliches erlebt haben, offen auszutauschen. Deshalb sind mir auch Deine Rückmeldungen stets sehr kostbar und ich danke Dir herzlich dafür!


Ich wäge immer sehr genau ab, wieviel ich über Familiäres preisgeben "darf", im Sinne meiner Familie, die ich ja auch schützen möchte. Es liegt mir mehr als fern, jemanden bloßzustellen!

Es stimmt, die Forderungen alter Menschen können äußerst maßlos sein, ich erlebe es an meinem Vater, der wirklich heftige Hebel ansetzt, um Menschen zu manipulieren. Ich habe seine Mechanismen in den letzten beiden Jahren deutlich durchschaut - auch mit Hilfe von kompetenten Fachleuten, die ich zu Rate…

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stemmer.recklinghausen
stemmer.recklinghausen
Mar 19, 2023

Diese männlichen Ver- und Gebot kenne ich auch aus meinem Elternhaus. Lange Zeit habe ich mich dafür eingesetzt, dass meine Mutter wieder arbeiten gehen "durfte". Die Argumente waren ähnlich (unsinnig). Freue mich für dich, dass ihr ins Verzeihen kommen konntet. Liebe Sonntagsgrüße

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C*
C*
Mar 19, 2023
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Es ist erschreckend, wie verbreitet diese Dramen sind ...

Ich kann von mir behaupten, dass ich mich auch in Romanen eben mit Themen beschäftige, die ebenso im realen Leben eine Rolle spielten / spielen. Weshalb ich doch immer wieder zu Büchern greife, die Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit mir wichtigen Themen sind. Deshalb finde ich auch Deine Rezensionen immer sehr spannend!

Und ganz sicher hat meine eigene Kindheit und Jugend auch dazu geführt, dass ich seit bald zwanzig Jahren in einem sozialen beruflichen Umfeld angesiedelt bin - und so lange mit Kindern gearbeitet habe.

Ich konnte sehr intensiv fühlen, wenn es meinen mir anvertrauten Kindern nicht gut ging. Es waren keine Worte nötig, ein Blick in Augen, in Gesichter, auf die…

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Nicole Joost
Nicole Joost
Mar 19, 2023

Ich weiß sehr gut wovon Du sprichst. Auch meine Mutter litt unter Demenz und ist an den Folgeerkrankungen gestorben. Deswegen gibt es auch einen Label "Demenz" bei mir auf der Website. Herzlichst, Nicole

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C*
C*
Mar 21, 2023
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Liebe Nicole,

HERZENSDANK!!! Soooo berührend - und es kommt sehr viel Liebe und Dankbarkeit bei mir an!

Und ich erlebe Selbiges wie Du, das Schreiben ist für mich auch sehr wichtig ...

Euer Herz ist wunder-wunderschön, in dieser Form habe ich Abschiedsblumen noch nie gesehen!

DANKE 🌷


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