Haben Maria Montessori und Johanna Haarer etwas gemeinsam?
Beide beendeten ein Medizinstudium. Beide dachten über Kinder und das Einwirken von Erziehung und Lernen nach, allerdings auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Auch sonst waren sie sehr verschieden in ihren Lebenswegen und in ihren Auffassungen über das Menschsein - die eine war freiheitsliebend und den Menschen liebevoll zugewandt, die andere der Nazi-Ideologie bis zu ihrem Tod treu ergeben, autoritär und zeitweilig für rassenpolitische Fragen der NS-Frauenschaft (D) zuständig.
Maria Montessori (1870 - 1952), eine italienische Ärztin, Philosophin und bekannte Reformpädagogin, setzte sich stets für einen achtsamen und respektvollen Umgang mit Kindern und Jugendlichen ein. Als tragisches Detail ihres Lebens erachte ich, dass sie sich jahrelang auf Anweisung des Kindsvaters nicht zu ihrem unehelich geborenen Sohn bekennen durfte. Ihre Weltanschauung war den Nazis ein Dorn im Auge, da sie ein eigenverantwortliches, freies, verantwortungsbewusstes und soziales Denken zum Ziel hatte. Auch sollten ihre Bücher ein Raub der Flammen und ihre Einrichtungen geschlossen werden.
Die Montessoripädagogik unterstützt das Kind in seiner Individualität und stellt seine natürlichen (und nicht anerzogenen!) Entwicklungsbedürfnisse und -möglichkeiten in den Mittelpunkt. Belohnungen und Strafen sind laut Montessori's Forschungserkenntnissen schädlich und wirken gegen eine natürliche Motivation für das Lernen.
In den 1930er Jahren waren Mütterschulungskurse in Deutschland en vogue, Schulungsinhalte formten sich aus dem Hauptwerk der Ärztin Johanna Haarer (1900 - 1988) - in ihrem Bestseller "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" gab sie hauptsächlich Anweisungen zu einer völlig seelen- und herzlos einwirkenden Säuglingspflege.
Man stelle sich vor, das Buch wurde - in überarbeiteter Version - bis 1987 neu aufgelegt. Das Buch war ein millionenfacher Verkaufserfolg, das darf einen fassungslos machen - wie auch Nachfolgendes: "Das Kind wird gefüttert, gebadet und trockengelegt, im Übrigen aber vollkommen in Ruhe gelassen." Ein Kind solle gleich nach seiner Geburt für 24 Stunden allein sein. Erst danach solle es der Mutter zum Stillen gebracht werden. Wenn ein Baby / Kind nicht zügig seine Nahrungsaufnahme verrichten wolle, dann solle das Stillen und Füttern abgebrochen werden. Wenn ein Kind danach Hunger habe, geschehe es ihm recht. Das Kind solle Tag und Nacht allein in einem stillen Raum für sich sein. Zärtlichkeiten lehnte Haarer ab, sie würden Kinder verweichlichen. Sigrid Chamberlain, 1941 in ein nationalsozialistisches Elternhaus geboren, Soziologin und Politikwissenschaftlerin, hat sich ausführlich mit Johanna Haarer's Theorien auseinandergesetzt und auch einige Bücher über den Zusammenhang von Erziehung und politischer Instrumentalisierung veröffentlicht.
"Wenn eine ganze Generation systematisch dazu erzogen worden ist, keine Bindungen zu anderen aufzubauen, wie kann sie es dann ihren Kindern oder Enkelkindern beibringen?“ Kinder, "die verführbar sind, nicht denken und nicht fühlen“, seien, so der Bindungsforscher Karl Heinz Brisch, „praktisch für eine Kriegernation.“ (Quelle: Wikipedia)
Johanna Haarer war bis zu ihrer Pensionierung (1965) in bayrischen Gesundheitsämtern tätig. Immer wieder erfasst mich blankes Entsetzen, wenn ich recherchiere, dass Personen, die bis zu ihrem Lebensende ein erschreckendes Gedankengut verinnerlicht hatten, noch so wichtige Funktionen in beruflichen Bereichen einnehmen durften. Die Töchter von Johanna Haarer bestätigten in Interviews, dass die Mutter familiäre Konflikte stets mit Gewalt gelöst hat und bis zu ihrem Tod überzeugte Nationalsozialistin war.
Mein Vater hat mir vor einigen Wochen "Elternbriefe" überreicht. Als Herausgeber dieser mittlerweile stark vergilbten Briefe fungierte schon vor mittlerweile sechs Jahrzehnten das Katholische Zentralinstitut für Ehe- und Familienfragen in Köln. Die Lizenzausgabe für Österreich wurde also unter österreichischen Eltern verbreitet. In ein paar stillen Stunden werde ich mich durch diese Briefe schmökern - ich bin gespannt, was mich erwartet ... Ich habe so meine Vermutungen ...
Wie du diese beiden Frauen, die (fast) zeitgleich gelebt haben, nebeneinander stellst, ist ein Beweis, dass man eben nicht immer nur das Kind seiner Zeit ist, sondern dass man die Zeit auch (mit)macht, deren Kind man ist. Soll heißen, dass man durchaus Verantwortung trägt, dass man mit offenen Augen (und Herzen) überprüfen kann und muss, was man so für Vorstellungen hat und wie sie sich einfügen und was sie bewirken. Und wenn es um Kinder geht, dreimal mehr.
Ein sehr interessantes Buch, das auch in diese Zeit gehört: Lilly Maier: Auf Wiedersehen Kinder.
Auf Wiedersehen, Kinder! von Lilly Maier - Buch - 978-3-222-15048-7 | Thalia
Danke für die Anregung!
Liebe Grüße, Andrea