Das alljährliche Sommerfest im Seniorenwohnhaus meiner Mutter musste wetterbedingt eine Woche verschoben werden, doch dann stehen alle Zeichen auf Sommer.
Das Wetter ist warm und angenehm. Als ich im Garten des Hauses ankomme und dort meine Mutter suche, erfahre ich, dass sie sich in ihrem Wohnbereich aufhält. Das erstaunt mich sehr. Meine Mutter, die bei allen Gelegenheiten, die Fröhlichkeit versprechen, dabeisein möchte! Der köstliche Duft von Bratwürstchen und Sauerkraut steigt mir in die Nase, doch bevor ich mich vom guten Geschmack überzeugen kann, geht's in die Wohngemeinschaft.
Mama sitzt mit zwei anderen Damen in der gemütlichen Wohnküche, sie liest in einer Zeitung und sieht mich verärgert an: "Was machst d u denn da?", fragt sie mich mit vorwurfsvoller Betonung. "Heute ist das Sommerfest, deshalb bin ich da. Ich möchte mit Dir gemeinsam Euer Sommerfest besuchen." Sofort bricht ein Sturm der Entrüstung los, dass sie nicht dorthin gehen wolle. Warum denn nicht? Na, sie habe zu tun. Sie sei eingeteilt worden, um auf die beiden Damen aufzupassen. - Immer wieder wähnt sich Mama in ihrem Berufsleben, als Krankenschwester hat sie liebend gerne unzählige Menschen gehütet und auf ihre Genesung geachtet.
Mama ist von mir nicht dazu zu bewegen, mit mir das Fest zu besuchen, nicht einmal die Aussicht auf Kaffee und Kuchen kann sie überzeugen. Da stimmt doch was nicht!
Mir eilt eine Mitarbeiterin des Hauses zu Hilfe. Nun wollen wir gemeinsam Überzeugungsarbeit leisten. Noch immer ist Mama skeptisch, reagiert ablehnend und stur. Als eine zweite Mitarbeiterin in unsere Überzeugungsarbeit einstimmt, erhält Mamas ablehnende Haltung tatsächlich Risse; schließlich schiebt sie den Sessel nach hinten, um bequem aufstehen zu können. Als sie ihren Platz verlässt, höre ich Schmerzenslaute. Meine Mutter bräuchte ein künstliches Hüftgelenk, denn bei ihr liegt Knochen auf Knochen. Das erzeugt heftige Schmerzen, die sie beim Aufstehen und bei den ersten Schritten stets am intensivsten spürt. Leider ist eine Hüft-OP aufgrund Mamas Demenz nicht ratsam: Eine Narkose könnte ihren geistigen Zustand dramatisch verschlechtern, zudem wäre es laut dem vor kurzem konsultierten Facharzt schwierig, sie zur Mitarbeit zu motivieren. Das leuchtet mir völlig ein! Sie ist also weiterhin auf Schmerzmittel angewiesen.
Nun also geht es in den wunderschönen Garten, lautes Stimmengewirr und viel Lachen sind von weitem zu hören. Auch die Sängerin und der Sänger, die bei Festen immer an Bord sind, verleihen erfolgreich beliebten Liedern ihre Stimme. Einige Menschen schwingen das Tanzbein - und im Gesicht meiner Mutter kündigt sich doch tatsächlich Wohlgefallen an. Das Lachen und die gute Laune der Menschen sind tatsächlich ansteckend 😊
Rasch ist ein schattiges Plätzchen gefunden und die Getränke werden gebracht, während ich mich anstelle, um zwei Teller mit jeweils einem Bratwürstchen und etwas Sauerkraut für uns beide zu organisieren. Gar nicht so einfach, denn die Bratwürste erfreuen sich großer Beliebtheit. Meine Mama erlebe ich nun in gehobener Stimmung, denn sie liebt es ja, wenn was los ist! Ihre gute Stimmung wird nur davon getrübt, dass sie leider schon wieder Bauchschmerzen hat.
Dennoch, wir verbringen eine gute Zeit beim Fest und die Aufmerksamkeit, die Mama von mehreren Seiten erfährt, tut ihr gut.
Aufgrund häufiger Bauchschmerzen hat ein Laktoseintoleranz-Test einen Tag vor dem Sommerfest stattgefunden. Sein Ausgang, um es vorwegzunehmen, ist erfreulicherweise negativ, meine Mutter hat keine Intoleranz. (Es besteht die Vermutung, dass es eher die vielen Tabletten sind, die sie einnehmen muss und von denen manche wohl zu Bauchschmerzen führen.)
Nur mit allergrößter Mühe konnte ich meine Mutter zur Untersuchung ins Krankenhaus bringen. Der Start in den Tag war für sie kein angenehmer, denn als ich in ihrem Zuhause ankam, schlief sie noch tief und fest. Ich musste sie ziemlich rasch auf die Beine bringen, das Taxi war ja bestellt. Wie gut, dass ich meinem Instinkt gefolgt bin und etwas früher eintraf! Ich hatte schon so eine Vorahnung ... Es gelang nur mit Beharrlichkeit, meine Mutter tagfein zu machen, während sie unaufhörlich zeterte, sie werde nicht ins Krankenhaus fahren. Die Untersuchung solle ich selbst machen. Na toll, so eine Stimmung!
Auch ins Taxi war sie kaum zu bewegen, da musste der Taxler mithelfen und seinen ganzen Charme aufbringen, damit sie einstieg. Im Krankenhaus angekommen, waren weiterhin harsche Worte von ihrer Seite zu hören, mit lauter Stimme wünschte mir meine Mutter im Wartebereich "alle schlimmen Krankheiten, die es gibt." - "Ich werde bei der Untersuchung laut schreien", kündigte sie völlig ungehalten an, während mir der Schweiß ausbrach. Prima, sie zeigt also immer noch, was sie kann! Es war mir sehr unangenehm, dass die Wartenden diese Szenen mitbekamen und es war anstrengend, meine Mutter zu beruhigen. Schließlich ging die Tür in den Untersuchungsraum auf und wir konnten im Untersuchungszimmer Platz nehmen. Die Krankenschwester erkannte sofort, dass meine Mutter auf Krawall gebürstet war - meine Mutter erzählte, dass ich eine Lügnerin sei und ihr nichts Gutes wolle. Die Frau konnte Mama rasch den Wind aus den zerzausten Segeln nehmen. Ich überredete meine Mutter zum Wetttrinken, denn das Gebräu, das sie zu trinken hatte, schmeckt tatsächlich nicht besonders, wie mir bestätigt wurde. Mit ärgerlichem Gesicht nippte Mama an ihrem Getränk, während ich pures Leitungswasser zu mir nahm. Endlich hatte sie die erforderliche Menge getrunken und die Testung, die zwei Stunden dauern sollte, konnte beginnen. Und langsam beruhigte sich meine Mutter, denn nun konnte sie erzählen, dass sie früher selbst Krankenschwester gewesen sei. Spätestens, wenn sie von ihren Heldentaten berichten kann, ist sie wieder die Mama, die ich zu lieben gelernt habe. Es war ein langer Weg ...
Die Geduld aller mit der Mutter umzugehen und auch die Bereitschaft, ihr immer zur Seite zu stehen, bewundere ich sehr. Ich finde es schön, wenn Menschen, die einst viel Tatendrang hatten später mit aller Geduld und Liebe Umsorgt werden.
Ich habe großen Respekt vor dir.
Liebe Grüße
Ach, wie schwierig das sein muss, mit der Mutter und ihrer unsäglichen Krankheit umzugehen. Und nicht die Nerven zu verlieren, wenn sie ungehalten ist, uneinsichtig und störrisch.
Das braucht wohl oft eine wahre Engelsgeduld - und Liebe halt, in den schlechten wie in den guten Zeiten.
Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft für diese heikle Aufgabe.
Einen lieben Sonntagsgruss,
Brigitte
Wenn auch meine Situation eine andere war, kann ich viele Sachen sehr gut nachvollziehen. Meine Mutter hat sich ihr Leben lang um alles gekümmert und dann ging es auf Grund von körperlichen Gebrechen nicht mehr. Sie wohnte zwar bis zum Schluss zu Hause, aber alles, was sie vorher gemacht hatte, machten nun mein Vater und ich. Damit hat sie sich nie abgefunden, was sich natürlich auch auf ihr Verhalten ausgewirkt hat.
Liebe Grüße
Jutta
Auch wenn man unsere Situationen nicht vergleichen kann, so kann ich dennoch alles nachvollziehen und deine Anspannung spüren. Es ist nicht einfach zu ertragen und leicht mit sehr viel Liebe im Hintergrund!