Dünnhäutiger
- C*
- 26. Apr.
- 2 Min. Lesezeit

Je älter ich werde, desto mehr neige ich dazu, sehr, sehr nah am Wasser gebaut zu sein. Patricia Riekel, die ehemalige langjährige Chefredakteurin der Zeitschrift Bunte, schreibt in ihrem Buch Wer bin ich, wenn ich nichts mehr bin? davon, dass sie tränensusig sei. Sie hat das Wort dem Buch Der geschenkte Gaul von Hildegard Knef entlehnt.
Sie meint, besonders rührselig zu sein. Ja, dieses tiefe Empfinden, dieses wuchtvolle Gerührtsein, das kenne ich auch von mir. Es gibt unzählige solche Momente in meinem Leben - Gelesenes, Gehörtes (Musik!), Beobachtetes, (das Verhalten von Kindern und Säugetieren, alte Liebespaare, ...), Erlebtes, Gefühltes, vieles kann mich besonders anrühren.
Ich fühle mich zunehmend berührbarer - aber auch dünnhäutiger und verwundbarer.
Und ich fühle mich mehr und mehr mit dieser Welt verbunden - alles, was diesen Planeten und die Menschen, die auf ihm leben, schmerzt, das schmerzt auch mich.
Frau Riekel weiß auch davon zu berichten, dass sich Langzeitstudien damit befassen, ob und wie weit sich die Gefühlswelt von Senior*innen verändert. Dabei kommt zutage, dass die meisten älteren Menschen einerseits gelassener sind, da bestimmte Gehirnregionen weniger aktiv auf negative Emotionen reagieren. Andererseits können ältere Menschen aber aufgrund ihrer Lebenserfahrung die Gefühle anderer Menschen besser nachempfinden. Diese Empathie ist für unsere Empfindsamkeit zuständig. Liest sich alles recht schlüssig für mich und ich wäre dankbar, wenn ich in manchen Dingen jetzt schon gelassener sein könnte.
Muttersein hat sich in meinem Leben nie aufgetan. Meine eigene Kindheit war sehr schwierig. Das Thema Familiengründung habe ich ganz sicher auch deshalb gemieden. Dennoch erlebe ich eine Art von Muttersein - für meine alten, kranken Eltern, die inzwischen hilflos sind wie kleine Kinder. Besonders erlebe ich mich als eine Mutter für meine Mutter. Vieles, das ihr aufgrund ihres geschwächten Körpers und Geistes, die sie immer mehr im Stich lassen, widerfährt, löst auch bei mir Tränen und Trauer aus. Ihr Kampf gegen ihre Ohnmacht rührt mich zutiefst.
Ich kenne mich damit aus, tränensusig zu sein. Es ist auch mit meinem Sehnen nach frühen Orten verbunden, an denen ich glücklich war, wo ich liebte und geliebt wurde. Manchmal möchte ich diese Zeit gerne wiederholen, zu mir heranziehen; ich möchte wieder in diese Orte eintauchen und die Menschen, die da lebten, noch einmal wiedersehen.
Foto: C*
Es stimmt, was Du schreibst. Das kann ich bestätigen, weil ich selbst einerseits gelassener geworden bin (was meine Belange betrifft), andererseits empfindlicher, wenn es um den Schmerz und das Leid anderer geht, besonders derer, die ich liebe …
Das Wort "tränensusig" gefällt mir so gar nicht, es liegt für mich zu sehr an dem stets abwertend gebrauchten Begriff "Heulsuse". Ich war immer schon nah am Wasser gebaut, habe mir das über Jahre - als ich "meinen Mann stehen" musste, abtrainiert, nicht zu meinem Vorteil. Ich freue mich, wieder berührbarer zu sein, ohne mich selbst dafür zu be-, zu verurteilen. Herzliche Grüße
ich war schon immer recht heulsusig, stelle aber fest, dass ich mit steigendem alter (ich bin jetzt 76) noch stärker auf bestimmte verhaltensweisen von menschen reagiere (hass, unfreundlichkeit, überheblichkeit) und auch was flora und fauna angeht, viel verletzlicher geworden bin. ich weine, wenn irgendwo wieder mal ein baum gefällt wird oder wenn ich von tieren lese oder etwas sehe, die es nicht gut haben. bei meinem mann ist es übrigens sehr ähnlich. ich empfinde das aber nicht als last, sondern als stärkeres mitgefühl - und ich finde, dass können eigentlich alle mehr gebrauchen!
liebe grüße von mano
Ich kann mich Brigitte nur anschließen. Und ich neige dazu, mit allen Sinnen ins Leben einzutauchen. In jungen Jahren habe ich das als Fluch empfunden. Jetzt weiß ich das anders zu deuten und auch gelassen damit umzugehen. Auch Tränen lasse ich mir nicht mehr verbieten und ich schäme mich nicht mehr dafür. Herzliche Grüße zu dir
Eigentlich weiß ich gar nicht richtig, wie ich bin. Von allem vielleicht ein bisschen. Wobei die Umstände sicher dabei auch immer eine Rolle spielen.
Ich denke aber, dass ich mich im Älterwerden immer mehr der Natur und nicht den Menschen zugewandt habe. Dort werde ich wieder zum Kind, freue mich über alles, was ich sehe und lasse meinen Gefühlen freien Lauf. Bei den Mitmenschen erntet man da oft Unverständnis, wenn nicht sogar Häme. Oft genug habe ich das in meinem Leben erfahren. Das will ich jetzt nicht mehr.
Das soll natürlich nicht heißen, dass ich dem Leid anderer Menschen völlig gefühllos gegenüberstehe.
Liebe Grüße
Jutta