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Bereit für ein Wunder?



Kinder und Tiere - ein besonderes Kapitel. Erst recht im Leben von Sam, der zweieinhalb Jahre alt ist, als er aufhört zu sprechen: Die verzweifelte Odyssee seiner Mutter durch viele Arztpraxen wird in der Diagnose gipfeln, dass Sam Autist ist.

Die außergewöhnliche Beziehung zwischen Sam und seinem Teacup-Schwein Chester, die im Buch Mein Freund Chester (Autorin Jo Bailey mit Co-Autorin Ruth Kelly) geschildert wird, hat mich beeindruckt. Und auch Jo Baileys mutiger und kämpferischer Weg, aufzubrechen, zurück in ihre alte Heimat, die eine weitaus bessere Lebenswelt für Sam bedeutet. Doch der Reihe nach.


Sommer 2005, Jo Bailey lebt seit vierzehn Jahren in Spanien, in einem mit ihrem Ehemann Jaime selbst entworfenen Traumhaus mit Pool und Palmengarten. Jos Ehe mit Jaime steckt allerdings in einer tiefen Krise, weshalb ihre Mutter präsent ist, um sie zu unterstützen. Jos Sohn Sam ist zweieinhalb Jahre alt, der Zweitgeborene, Will, ist elf Monate alt. An einem dieser Sommertage ist Sam mit seiner Großmutter unterwegs und knallt mit dem Kopf in einem Supermarkt gegen einen Betonpfeiler, als er wieder einmal völlig selbstvergessen geraden Linien folgt, von denen er seit einiger Zeit in auffälliger Weise fasziniert ist. Sams Mutter und Großmutter sind besorgt über Sams Verhalten, das er bereits seit mehreren Monaten zeigt: Er wiederholt beim Spielen die immer gleiche Aktivität stundenlang, auch das wiederholte aufgeregte Händewedeln fällt auf. In der Kindertagesstätte erfährt Jo erst auf Nachfragen (!unfassbar!), dass Sam nicht mit anderen Kindern spricht. Bei Jo schrillen die Alarmglocken noch lauter und erst recht, weil sie immer häufiger beobachtet, was sie nicht einordnen kann, etwa, dass Sam mit einem rosa Handschuh vor der Waschmaschine sitzt und mit diesem während des gesamten Waschvorgangs wedelt. Sobald die Maschine stoppt, starrt er mit leerem Blick in die Trommel. Ein Termin bei einem Kinderpsychologen soll Klarheit bringen - doch Jo wird viele Türen öffnen und schließen müssen, bis sie endlich erfährt, was bei Sam anders ist. Mehr und mehr verliert der Bub das Interesse an seiner Umwelt, er spielt nicht mehr mit seinem Bruder und hört schließlich ganz auf, zu sprechen. Auch seine Ausraster nehmen zu, Selbstverletzungen inklusive, wenn ihm die laute und verwirrende Welt einfach zuviel ist - und das ist sehr häufig der Fall. Sam lebt nun nur noch in seiner eigenen Welt und ist meist vollkommen teilnahmslos. Jos Verzweiflung, ihre Erschöpfung und Hilflosigkeit sind groß. Ihr Noch-Mann Jaime, Vater ihrer Kinder, ist keine Unterstützung, er bleibt der Familie aus beruflichen Gründen oft wochenlang fern. Doch Jo lässt nicht locker und setzt auf unzählige Recherchen über Autismus und sie sucht nach hilfreichen Kontakten.


Das Buch ist auch Zeugnis unendlicher Mutterliebe: Jo lässt nichts unversucht, um ihrem Sohn zu helfen. Nach der Trennung vom Vater ihrer Kinder lernt Jo ihren neuen Partner Darren kennen, der sie rasch bedingungslos unterstützt und den beiden Buben ein liebevoller wie geduldiger sozialer Vater wird. Darren bietet Jo an, finanziell für die Familie zu sorgen, damit Jo sich ihren Kindern, vor allem aber Sam widmen kann. Ein Umzug von Spanien nach England (nach der gerichtlich geklärten Sorgerechtssituation) bringt nicht nur ein neues Zuhause in idyllischer Umgebung, sondern auch eine erste so bedeutungsvolle Begegnung mit einem Minischwein: Jänner 2009, niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, wie sich Sams Leben und das seiner Familie auf wundersame Weise ändern wird. Das Schweinchen ist zuerst so klein, dass es nur schwer auszunehmen ist, als es versteckt in einer Ecke des Schweinekobens liegt - es sieht einsam und traurig aus. So wie Sam auch oft aussieht. Zwischen Sam und dem Miniferkel Chester besteht vom ersten Moment an eine geradezu zauberhafte innige Verbindung. Rasch ist Jo klar, dass sie Sam und Chester nicht mehr trennen kann und so wird Chester in die Familie aufgenommen. Die liebevolle Beziehung zwischen Minischwein und Kind wird Sams Selbstvertrauen immer mehr stärken, er entwickelt sich ebenso durch seine neue schulische Umgebung gut. Gerade in der Lehrerin ihres Sohnes findet Jo auch menschliches Verständnis und sie kann ihr Wissen über Autismus vertiefen. Jos Hingabe zu ihrem Sohn Sam ist radikal - mehrmals zieht die Familie um, damit sie sich nicht von Chester trennen muss, denn das Schweinchen ist kein Minischwein geblieben und bringt das Leben der Familie gehörig durcheinander.

Was mich für dieses Buch ebenfalls einnimmt, ist, dass es einen unerschütterlichen Zusammenhalt einer Familie zeigt, der auch sehr wichtig ist, weil viele Herausforderungen auf Sam, seinen Bruder und seine Mutter sowie ihren Partner warten. Trotz aller Schwierigkeiten gelingt es der Familie, ihre Liebe füreinander zu bewahren und zu nähren. Dazu tragen auch Jos Mutter und ihre Schwester bei. Immer wieder gibt es Rückschläge, aber auch Hoffnung am Horizont und die Gewissheit, dass Chester für die beiden Kinder ein unersetzlich kostbarer Gefährte ist. Sam lernt nach und nach, sich in seinem Leben auf seine Weise zurechtzufinden und er nimmt wieder Kontakt mit seiner menschlichen Umwelt auf - er zeigt auch langsam Gefühle und lernt erfolgreich, diese auch an Menschen, die ihm wichtig sind, einschätzen zu können.

Ein sehr schönes Buch über Tatsachen - und wahrlich über Wunder!


Ich habe größten Respekt vor Eltern, die für das Wohl ihrer behinderten Kinder kämpfen. Nicht selten sind auch die Reaktionen der Umwelt wenig hilfreich, schiefe Blicke und unpassende Ratschläge inklusive. Was so eine Familiensituation auch an Entbehrungen mit sich bringt, kann ich nur ahnen: An meinem ehemaligen Arbeitsplatz habe ich wiederholt erlebt, dass es meist die Mütter sind, die immerzu zur Verfügung stehen, oft auch zu wenig unterstützt von ihren Männern - oder gar von ihnen verlassen. Häufig sind auch die finanziellen Ressourcen knapp, denn ein geregeltes Arbeitsleben ist bei soviel Hingabe kaum möglich. Auch für die Geschwister eines behinderten Kindes bedeutet dies oft, dass sie weniger Beachtung finden. Die Gedanken, ihr Kind eines Tages nicht mehr begleiten und pflegen zu können, beschwert zusätzlich Herz und Seele der pflegenden Angehörigen.

Kostenlose Therapieplätze sind rar gesät, ebenso wie es monatelange Wartezeiten gibt. Meine Erfahrung ist, dass gerade tiergestützte Therapien von den Kindern mit Begeisterung angenommen werden: Tiere können u.a. hilfreich sein bei der Verbesserung der Motorik sowie der sprachlichen Fähigkeiten, sie helfen bei der Kontaktaufnahme und unterstützen Kinder dabei, ihren Stress abzubauen.

Der Gesetzgeber ist dringend gefragt, in Bezug auf Therapieangebote und Entlastungen für pflegende Angehörige sinnvolle und menschliche Lösungen zu erarbeiten: Wie bei vielen Entscheidungen, die am Schreibtisch getroffen werden, finde ich es auch bei diesem Themenkreis bedauerlich, dass Entscheidungsträger*innen nicht ausreichend mit der Realität in Berührung kommen.


#Kinder #Herz #Seele #Buchtipps Fotos: C* - beide Aufnahmen sind in Tierparks entstanden

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