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Auf Augenhöhe



In einer Zeitschrift habe ich einen Artikel gelesen, den ich hier erwähnen möchte. Den Wunsch der in Hamburg lebenden Autorin, Birte Müller, auf Menschen zu treffen, die eine Kommunikation auf Augenhöhe führen, kann ich bestens nachempfinden. Birte Müller ist ausgebildete Bilderbuchillustratorin, schreibt aber derzeit hauptsächlich Kolumnen für die taz.


Birte Müller hat zwei Kinder, ihr Sohn Willi hat Trisomie 21. Wie in ihrem Artikel Schuld und Verantwortung in der Zeitschrift MENSCHEN, 6/2024 zu lesen ist, vermisst sie vor allem im Umgang mit medizinischen Fachkräften eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Eltern tragen eine Verantwortung für ihre Kinder, doch nicht immer im Sinne von Schuld oder Verdienst, wie sie meint. Müllers Erfahrungen zeigen, "wie wichtig es ist, Familien mit behinderten oder chronisch kranken Kindern respektvoll und unterstützend zu begegnen, anstatt zusätzliche Belastungen durch Schuldzuweisungen zu schaffen." (Quelle: MENSCHEN, 6/2024)

Birte Müllers Sohn Willi ist weder das Opfer eines fahrlässigen Unfalls oder eines Behandlungsfehlers, er hat eben einfach ein Chromosom 21 mehr in jeder Körperzelle.

Die Autorin schreibt von Begegnungen mit Menschen, die ihr die Verantwortung dafür geben, Mutter eines Kindes mit Trisomie 21 zu sein. Sie hätte ja einen Test machen können. Eine Verantwortung sehen vor allem Ärzt*innen bei der Mutter, sie erzählt von unbedachten Äußerungen dieser. Birte Müller erwartet von Ärzt*innen nach ihren Worten jedenfalls, dass sie ihre Aussagen genau bedenken. Die Praxis zeigt jedenfalls ein anderes Bild: Beim Austausch mit anderen Eltern behinderter oder chronisch kranker Kinder erzählen diese ebenfalls Haarsträubendes über misslungene Arztgespräche.

Bereits der Gynäkologe entschuldigte sich sechs Wochen nach Willis Geburt bei der Nachuntersuchung, weil er während der Schwangerschaft keine Anzeichen für eine Trisomie 21 entdeckt hatte. Birte Müller hatte den Arzt übrigens gar nicht darum gebeten. Dennoch gab er kund, dass es ihm sehr leidtäte.

In einem sozialpädiatrischen Zentrum wurden Willis Entwicklungen weiter untersucht. Berichte über diese Untersuchungen lasen sich nach Aussagen der Mutter "wie eine gigantische Mängelliste". Ebenfalls zeigt sie auf, dass die untersuchende Ärztin bei jedem Besuch entnervt war, weil Willi war, wie er ist: sehr lebhaft. Während ein Elternteil versuchte, Willi zu beschäftigen, sprach der andere mit der Ärztin. Diese geriet aus der Fassung, wenn Willi Sachen umherwarf oder einen Teddy aus dem Regal zog, den man nicht anfassen durfte. Da die Ärztin allerdings ständig mit Kindern mit Behinderung und ihren Familien zu tun hat, überrascht es doch sehr, dass sie kein Verständnis für Willi bzw. seine Familie zeigte. Anerkennung für die Eltern, die ihren Sohn rund um die Uhr betreuen? Fehlanzeige!


Weiters schildert Birte Müller ihre Suche nach Unterstützung für ihre Tochter Olivia. Olivia ist 15 Jahre alt und leidet unter einer schweren Depression mit starker Schulangst. Seit einem Jahr ist Olivia zuhause, eine mögliche Ursache für Olivias Probleme könnte das Trauma einer schweren Post-Covid-Erkrankung sein, die sie zwei Jahre zuvor erlebt hatte. Birte Müller empfindet sich als "Bettlerin", um Termine bei Psychiater*innen, Psycholog*innen und in Kliniken zu bekommen. Es werden Fragebögen über Fragebögen ausgefüllt, der Rest ist: Warten. Der Grund dafür ist natürlich eine Überlastung des Gesundheitssystems, alle Angebote sind überlaufen.

Birte Müller schreibt weiters in ihrem Artikel über ein Vorgespräch in einer psychosomatischen Tagesklinik, in dem Olivia ehrlich von ihren Ängsten erzählte, sie gab auch ihre Selbstverletzungen zu. Die zuständige Ärztin vermutete eine Essstörung und glaubte dem Mädchen nicht, als es diese verneinte. Ebenfalls fand die Ärztin das gute Mutter-Tochter-Verhältnis verdächtig. Die Mutter wurde gefragt, ob es in der Familie andere Vorerkrankungen gäbe. Frau Müller erzählte von ihrem Sohn und von ihrem Vater, der an einer bipolaren Störung leidet. Sie selbst habe nach der Geburt ihrer beiden Kinder unter einer Depression gelitten, sie gab es ehrlich zu. Die Ärztin quittierte die Schilderung der leidgeprüften Frau mit den Worten: "Bei Ihnen ist ja so einiges los."

Der Blick der Ärztin sei nicht mitfühlend, sondern vorwurfsvoll gewesen, ob denn klar sei, dass "das Risiko" dadurch steige? Olivia saß inzwischen sichtlich geknickt im Arztzimmer, was die Ärztin nicht beeindruckte, im Gegenteil: Sie holte noch weiter aus und meinte, Kinder von Müttern, die keine Liebe zeigen könnten, seien stark gefährdet, ebenfalls psychisch zu erkranken. Es folgte eine weitere Schuldzuweisung an die Mutter, dass ihre Tochter nicht zur Schule gehe.

Als sich die Ärztin schließlich noch einmal mit einer Frage an Olivia wandte, wollte diese verständlicherweise keine Antwort mehr geben: "Ich habe das Gefühl, egal, was ich sage, es wird gegen mich verwendet."


Das Lesen dieses Beitrages hat mich wütend gemacht, weil so deutlich ist, dass Birte Müller nicht nur eine sehr engagierte und liebevolle Mutter ist, sondern auch Hilfe sucht - stattdessen allerdings unfassbare Wortmeldungen bzw. Vorwürfe zu hören bekommt.

Es ist für mich nicht verwunderlich, dass sie auf eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe drängt. Und es ist mir auch klar, dass es ihr nach eigenen Worten immer schwerer fällt, ehrlich zu sein und um Unterstützung zu bitten.


Ich finde es in höchstem Maße beschämend, dass es Fachleute gibt, die auf so eine Weise agieren. Ich kenne selbst mehrere Berichte dieser Art aus meinem früheren Berufsleben: Ich war als Mitarbeiterin in einem Integrationshort bei vielen Elterngesprächen zugegen. Ich habe mit Kindern gearbeitet, die eine oder mehrere Behinderungen hatten. Ich habe Mütter kennengelernt, die am Ende ihrer Kräfte waren, von den meisten Vätern fehlte oft jede Spur. Sie waren nicht nur in unserer Einrichtung kaum zugegen, sie fehlten auch in den Familien.


Wenn ich Berichte wie den erwähnten lese, bin ich sehr dankbar, dass ich selbst nur mit Ärzt*innen zu tun habe, die ihren Fokus auch auf eine große Menschlichkeit ausrichten. Ich weiß auch, dass sich viele Ärzt*innen unter Druck befinden, wenn sie (noch) innerhalb der Kassenverträge agieren, die ihnen kaum Zeit lassen, um sich auf die gesundheitlichen Themen ihrer Patient*innen einzulassen. In den letzten Jahren habe ich daher mehrere Fachärzt*innen gewählt, die ihre Praxis als Wahlärzt*innen führen.


Ich habe große Sorge, dass es künftig noch schwieriger wird, rechtzeitig(!) professionelle Hilfe zu erhalten. Ich lebe in einem Land, in dem gerade eine neue Regierung geschmiedet werden soll. Wenn es eine Koalition zwischen FPÖ und ÖVP gibt, werden wohl weitere Einsparungen im Gesundheitsbereich sowie bei sozialen Einrichtungen folgen. Ich halte diese Entwicklungen für katastrophal.


Foto: Pixabay, Krzysztof Pałys

4 Kommentare

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4 Comments


Jutta Urbat
Jutta Urbat
vor einer Stunde

Leider erlebt man so etwas nicht nur in solchen Fällen, wie du beschrieben hast. Was ich als absolut katastrophal empfinde. Was muss diese Mutter erst empfinden, wenn ich mich als ganz normaler Patient über so etwas maßlos ärgere. Manche Ärzte tun ja wirklich so, als käme man aus Dummsdorf oder sie zweifeln grundsätzlich an, was man sagt oder ähnliche Sachen. Zum Glück gibt es aber auch noch die anderen und man kann wirklich zufrieden sein, wenn man so einen Arzt hat.


Liebe Grüße

Jutta

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C*
C*
vor 43 Minuten
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Gerade für Ärzt*innen müssen hohe ethische Richtlinien gelten und auch von ihnen eingehalten werden.

Ich kann sehr zufrieden sein mit meinen Ärzt*innen, allerdings bin ich fast nur noch in Wahlarztpraxen, was ganz schön teuer ist. Das ist nicht für jeden leistbar, aber ich möchte nicht monatelang auf wichtige Termine warten müssen.

Ich finde es sehr bedauernswert, wie unser Gesundheitssystem gesteuert wird. Das gilt für Österreich wie für Deutschland.

Liebe Grüße

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petra ulbrich
petra ulbrich
vor 4 Stunden

Dieses:  "Ich habe das Gefühl, egal, was ich sage, es wird gegen mich verwendet."

kann/muss ich leider bestätigen und ich komme mir immer im Rechtfertigungsmodus vor. Auch in meinem Blog.

https://voller-worte.de/

Danke für diesen Beitrag und liebe Grüße


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C*
C*
vor 2 Stunden
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Dieser Satz stammt ja von der fünfzehnjährigen Tochter der Autorin, was die Situation ganz besonders drastisch macht. Aber wie wir lesen können, haben sich die Enttäuschungen im Laufe vieler Jahre auch bei Frau Müller selbst schon mächtig angesammelt.

Da ich nun wieder täglich bei Dir lesen kann, weiß ich, was Du meinst, liebe piri.

Ich selbst hatte heute auch einen Arzttermin - die Ärztin hatte viel Zeit für mich und meine Befunde, allerdings eine Wahlärztin.

Liebe Grüße zu Dir!

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